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■ Algerien: Bei der Krise geht es nicht um Islam oder Demokratie, sondern um den Erhalt von Pfründen eines mafiotischen RegimesKein Ende des Gemetzels?

Die Horrormeldungen aus Algerien sind so unfaßbar, daß sie sich jedem rationalen Erklärungsversuch zu entziehen scheinen. Da liegt es nahe, ein tief im Unterbewußtsein verankertes Islambild aus einer Mischung von Blutrünstigkeit, fanatischem Irrationalismus und Sexismus zu bemühen, um die Unverständlichkeit begreifbar zu machen. Denn es kann und darf doch nicht wahr sein, daß ein Militärregime, das mit seinem Putsch im Januar 1992 die Errichtung eines „Gottesstaates“ verhindert hat, in diese Massaker verwickelt sein soll.

Jedoch ist festzustellen: Die Islamische Heilsfront (FIS) war 1992 nicht darauf vorbereitet, in den Untergrund zu gehen, sondern glaubte an die Machtübernahme nach den Wahlen. Nur so konnte das Militär nach dem Putsch viele Tausende ihrer Kader und Anhänger verhaften. Anschläge der Islamisten blieben anfangs vereinzelt, richteten sich gegen Vertreter der Staatsmacht und fanden Unterstützung in der Bevölkerung, vor allem in den verslumten Randbezirken der Großstädte.

1993 ging das Regime zu massiven Anti-Terror-Maßnahmen über, indem es gezielt jene Gruppen der Bevölkerung terrorisierte, die zu 80 bis 90 Prozent FIS gewählt hatten. In dieser Zeit entstanden auch die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA). Vieles ist an diesen Gruppen untypisch: Nie haben sie ein politisches Programm veröffentlicht. Nie wurden Mitglieder der Gruppe gefangengenommen. Nie haben diese Gruppen, die stundenlang in unmittelbarer Nähe von Kasernen und Gendarmerieposten Hunderte von Menschen abschlachten können, einen Anschlag auf die Tausende von Kilometern von Pipelines verübt. Und warum sollte die GIA gerade dort morden, wo die Islamisten bei den Wahlen Spitzenergebnisse erreichten? Braucht doch jede Guerilla zu ihrem Schutz die sympathisierende Zivilbevölkerung. Vieles deutet darauf hin, daß es sich hier um gezielten Gegenterror des Regimes handelt.

Es gibt zwei rationale Gründe für die Gemetzel. Erstens: Terror gegen die Bevölkerung. Zweitens: Demonstrationen gegenüber dem Ausland, welch gräßliche Barbaren die Islamisten sind, mit dem Ziel, weitere Unterstützung für das Folterregime in Algier zu akquirieren. Ein dritter Grund scheint in jüngster Zeit hinzugekommen zu sein. Die überfallenen Dörfer befinden sich allesamt in den fruchtbaren Gegenden, wo die ehemaligen Farmen der französischen Siedler liegen, die dann in sogenannte sozialistische Selbstverwaltungsbetriebe umgewandelt wurden. Aufgrund einer Auflage des Internationalen Währungsfonds (IWF) aus dem Umschuldungsabkommen von 1994 muß Algerien bis Ende dieses Jahres seine Staatswirtschaft privatisieren. Die in den Selbstverwaltungsbetrieben beschäftigten Landarbeiter haben ein Vorkaufsrecht. Sind diese Bauern aber erst einmal vertrieben, kann das Land an die Barone des Regimes billig und problemlos verscherbelt werden!

Sicherlich wäre es falsch, „die Regierung“ direkt für die Massaker verantwortlich zu machen, ist sie doch selbst nur das halbzivile Aushängeschild des Generalstabs und des Militärischen Sicherheitsdienstes. Diese halten die reale Macht in Händen, wobei sich innerhalb dieser Clique unterschiedliche Clans bekämpfen. Hinzu kommt, daß der algerische Staat selbst auf sein Gewaltmonopol verzichtet hat, indem er kommunale Selbstverteidigungsgruppen und Milizen bewaffnet, die auf derzeit ungefähr 200.000 Mann geschätzt werden. Es liegt auf der Hand, daß in der katastrophalen Lage, in der sich Algerien befindet, Teile dieser Gruppen auf eigene Faust Krieg führen.

Die Vernichtung der Opposition und das Versinken des Landes im Chaos sichern das Überleben des Regimes auf der Basis mafiotischer Strukturen: 98 Prozent der Staatseinnahmen kommen aus dem Export von Erdgas, der allein vom „Staat“ kontrolliert wird. Mehr als 80 Prozent der Grundnahrungsmittel müssen importiert werden. Importlizenzen haben jedoch nur wenige Importeure, die zu dieser Mafia gehören. Bei der algerischen Krise geht es nicht um Islam oder Demokratie, sondern um den Erhalt von Pfründen. Gleichzeitig wird die Arabisierung und Islamisierung der Gesellschaft vorangetrieben, sitzen doch im derzeitigen Kabinett sieben Minister der islamistischen „Bewegung der Gesellschaft für den Frieden“ (bis 1997: Hamas). Von der islamistischen FIS unterscheidet sie sich nur dadurch, daß sie nicht die Macht beansprucht, sondern sie den Militärs überläßt und dafür bescheiden an den Pfründen partizipieren darf.

Der Westen trägt an dieser Entwicklung eine große Mitverantwortung. Als das Militär im Januar 1992 putschte, hielt man das Militär für das kleinere Übel. Die Umschuldungsverhandlungen des Jahres 1994 wurden dazu genutzt, dem Regime wirtschaftlich Luft zu verschaffen. Und als sich 1994/95 alle algerischen Oppositionsparteien einschließlich FIS und FLN (außer den Kommunisten und der kleinen Berberpartei RCD, die beide noch bedingungsloser für die „Ausrottung“ des Islamismus eintreten als die Militärs) bei Rom trafen und eine gemeinsame Charta beschlossen, auf deren Basis auch die FIS der Gewalt abschwor, wurde diese Initiative von François Mitterrand aufgegriffen und von Kanzler Helmut Kohl unterstützt. Sie wurde jedoch im Vorwahlkampf um die Mitterrand-Nachfolge von der konservativen Regierung in Paris blockiert.

Obwohl die Strukturen der FIS weitgehend zerschlagen sind und die Reste der FLN wieder die Militärregierung unterstützen, bleibt die „Plattform von Rom“ die einzig mögliche Formel, um auf der Basis einer Allparteienregierung eine Befriedung des Landes zu erreichen. Voraussetzung dafür wäre die Freilassung der FIS-Führung ebenso wie die effektive zivile Kontrolle beziehungsweise die Abschaffung des militärischen Sicherheitsdienstes. Für solch einen Schritt stünden die Zeichen nicht einmal schlecht, denn Algerien muß in diesem Jahr seine Auslandsschulden neu verhandeln.

Angesichts der grauenhaften Situation sollten die westlichen Regierungen aufhören, die algerische Position zu beschwören, das Land verbitte sich eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Die Auflagen des IWF und der Weltfinanz von 1994 waren viel weitgehender, wurde doch Algerien damals gezwungen, sein Atomprogramm einzustellen und seine gesamte Wirtschaft zu privatisieren. Nicht die Handlungsmöglichkeiten fehlen Europa und dem Westen, sondern der politische Wille! Werner Ruf

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