Album des Jazzorchesters Sun Ra: Illumination des Saturn
2014 feierte das Sun Ra Arkestra den 100. Geburtstag des verstorbenen Jazzmusikers Sun Ra mit einer Welttournee. Nun erscheint das Album dazu.
Zu einer musikalischen Anrufung gehören erhabene Gesangsformeln, unablässig jagende Drumbeats und Bläser, die sich auf die rituelle Wiederholung prägnanter Motive verstehen. Seit dem irdischen Ableben des Jazzmystikers, Pianisten, Komponisten und Bandleaders Sun Ra im Jahr 1993 erfüllt das nach ihm benannte und von seinen Weggefährten fortgeführte Arkestra einen zweifachen Auftrag: die Anrufung des Kosmos in Tradition des Meisters und seiner Werke und deren Kontinuierung in die unmittelbare und von heute aus imaginierte Zukunft.
So besingt Tara Middleton zu Anfang eines Konzerts, mit dem sich das Arkestra am 21. Mai 2014 in Istanbul auf seine Welttournee zum 100. Geburtstag von Sun Ra einstimmte – jetzt als Album veröffentlicht –, die „Astro Black Mythology“. Sie sei von zeitloser Unsterblichkeit, lasse das Universum selbst durch die Stimme sprechen und sei diesem Lied verbunden, das zugleich Middletons Vorgängerin im Arkestra, die Sängerin June Tyson (1936–1992) aufruft.
Die Zeremonie ist eröffnet und löst im Folgenden das Heilsversprechen auf spirituelle Seelennahrung für dies- und jenseitige Geschöpfe furios ein. Die Illumination von „Saturn“, dem erklärten Heimatplaneten Ras und Spiritus Rector seines Schaffens, ist dem Arkestra in seiner gegenwärtigen Besetzung eine mühelose Darbietung kaum gebändigter Spielenergien im Zusammenklang der Combo. Junge Musiker wie der Pianist Farid Barron oder der Schlagzeuger Wayne Anthony Smith Jr. stehen den einstigen Jüngern Ras, dem 89-jährigen Altsaxofonisten Marshall Allen und seinem Instrumentalkollegen Knoel Scott, dem Jazz-Hornisten Vincent Chancey, dem Baritonsaxofonisten Danny Ray Thompson, in nichts nach.
Einer der lebensfrohesten Pakte zwischen den Musiker-Generationen im Jazz entfaltet hier einen Sog von transzendentaler Dimension. Und natürlich nutzt Allen den Klang seines Electronic Valve Instrument zur Kontaktaufnahme mit höheren Wesen.
Wahllose Schnitte, Kamerafahrten und Zooms
Undenkbar, dass dieses Konzert den Geist von Mehmet Ulug nicht mit Wonne und Frieden erfüllt. Der Jazz-Enthusiast hatte 1990 als gerade 30-Jähriger gemeinsam mit seinem Bruder Ahmet das Sun Ra Arkestra zur Einweihung eines neuen Festivals nach Istanbul eingeladen.
Der Ankunft am Flughafen war ein spektakulärer Umzug auf einem offenen Wagen durch die Stadt gefolgt, die bekannte Einkaufsstraße Istiklal entlang und auf den Taksimplatz, von Hunderten Menschen spontan begleitet und bejubelt. Ulug verstarb 2013, und die farbenfrohen, ausgelassenen und friedlichen Botschafter einer Musik der Menschenwürde würden heute vermutlich erst gar nicht auf den Platz gelassen.
Sun Ra Arkestra under the direction of Marshall Allen: „Babylon Live“ (In+Out Records/In-akustik)
Obwohl die Zukunft für sie stets eine bessere Existenz bereithält, denn Middleton intoniert am Ende des Konzerts „We sing this song to / a great tomorrow / We sing this song to / abolish sorrow“. Der De-luxe-Ausführung ist eine Filmdokumentation des Konzerts beigefügt, die ein wenig mehr Tuchfühlung mit den in Glitzerroben gewandeten Bandmitgliedern erlaubt: etwa wenn sich Scotts minutenlange Saxofonexerzitien auch visuell bewundern lassen oder sich die gesamte Band in den romantischen Songklassiker „Stardust“ versenkt. Jedoch verstellen wahllos wirkende Schnitte, Kamerafahrten und Zooms den Blick auf die Eigengesetzlichkeit des musikalischen Treibens.
Mit dem Begriff Reenactment, im Feuilleton ein wenig aus der Mode geratene Bezeichnung für die Wiederaufführung historischer Ereignisse, ist die Arbeit des Arkestra an der Gegenwärtigkeit utopischer Visionen und deren Fortspinnung am ehesten zu beschreiben. Dass die MusikerInnen dabei unsere Vorstellungen von Authentizität und Inszenierung, Können und kosmischer Eingebung, Futurismus-Folklore und Jazz-Vergegenwärtigung produktiv verwirren, nimmt umso mehr für sie ein.
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