Aktuelle Lage in der Ukraine: Kampf um mehr als Prioritäten
In der Ukraine wird die Verschiebung des Ramstein-Gipfels sorgenvoll kommentiert. Derweil gehen die Kämpfe weiter – auch im Hinterland.
Mit einem Hauch von Schadenfreude deutet Blogger Stanislaw Panasenko, ein Unterstützer von Ex-Präsident Poroschenko, in einem Post auf Facebook die Verschiebung des Gipfels als einen weiteren Misserfolg von Präsident Selenskyj. Er erwähnt Ramstein in einem Atemzug mit der Absage des für November geplanten hochrangigen „Friedenssummits“ und stellt fest, dass Selenskyjs „Friedensformel“ sich letztlich nur als ein Stück Papier entpuppt habe.
Unterdessen wird am Stadtrand von Wuhledar, im Südosten des Landes, weitergekämpft. Auch das nahe gelegene Kurachowe wurde vermehrt mit Artillerie angegriffen. Kurachowe, fürchtet das Portal focus.ua, droht möglicherweise eine ähnliche Schlacht wie um das Werk Asowstal in Mariupol. Und auf allen Karten markieren rote Pfeile der angreifenden russischen Armee deren langsames Vordringen Richtung Westen.
Auch im Hinterland, also nicht in unmittelbarer Frontnähe, gab es in den letzten Tagen erneut Verletzte und Tote. In Stepanivka, Region Cherson, wurden bei einem Angriff auf eine soziale Einrichtung zwei Krankenschwestern verletzt. In Cherson wurde eine Person durch russischen Beschuss verwundet, einen Tag zuvor wurde ein Mensch getötet, 16 weitere verletzt. Bei einem Drohnenangriff auf Odessa wurden zudem 5 Menschen in einem mehrstöckigen Haus verletzt, berichtet ua.korrespondent.net. In der Region Donezk wurde am Dienstagmorgen ein Mensch getötet, in Kostjantyniwka gab es elf Verletzte, so Vadym Filashkin von der örtlichen Militärverwaltung.
Bei einem Beschuss des Dorfes Borivsk Andriivka im Bezirk Isjum wurde am Dienstagabend nach Angaben von Oleh Sinegubow, dem Chef der örtlichen Militärverwaltung, eine Person mit einem Mehrfachraketenwerfer getötet. Zur gleichen Zeit wurde im Dorf Prymorske in der Region Saporischschja eine Person getötet, eine weitere verwundet. Im russischen Gebiet Belgorod wurden nach Angaben des Gouverneurs Wjatscheslaw Gladkow 8 Menschen durch ukrainische Luftangriffe verletzt.
Am 7. September hatte das ukrainische Parlament unerlaubtes Fernbleiben von der Truppe und Desertion weitgehend entkriminalisiert. Zuvor hatte der Gesetzgeber in solchen Fällen mehrjährige Gefängnisstrafen vorgesehen. Wer sich nun 72 Stunden nach unerlaubtem Fernbleiben wieder bei einer militärischen Einheit meldet, braucht keine Strafe zu fürchten.
Dieses Gesetz war offensichtlich vor dem Hintergrund zunehmender Flucht von ukrainischen Soldaten aus ihren Einheiten verabschiedet worden. Es herrscht unter ukrainischen Männern eine allgemeine Angst vor der Militärbehörde, die wehrfähige Männer oft direkt von der Straße weg aufgreift und in einen Bus steckt. Anschließend werden sie nach einer vierwöchigen Grundausbildung direkt an „die Null“, wie man in der Ukraine die Front nennt, geschickt. „Meinen Freund haben sie auch,bussifiziert'“, berichtet die Arzthelferin Nina (Name geändert) der taz. „Er ist an einem Abend vor fünf Wochen nicht mehr von der Arbeit zurückgekommen. Sie hatten ihn in einen Bus gesteckt. Und jetzt ist er an der Null.“
Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft wurden in den ersten acht Monaten des Jahres 2024 29.984 Verfahren wegen unerlaubten Verlassens einer Einheit eingeleitet. Zum Vergleich: 17.658 waren es 2023, im Jahr 2022 waren es 6.641. Ähnlich verhält es sich mit Deserteuren: In den ersten acht Monaten des Jahres 2024 registrierte die Generalstaatsanwaltschaft 15.559 Fälle von Desertion, 2023 waren es 7.883 Deserteure, und im Jahr zuvor 3.442.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!