Aktivist über Krise im Libanon: „Die Parteien schützen das System“
Die Protestbewegung im Libanon lässt nicht locker. Was die Menschen auf den Straßen des Landes antreibt, erklärt der Aktivist Nizar Hassan.
taz: Herr Hassan, seit bald zwei Monaten gehen die Menschen im Libanon gegen die korrupte politische Elite und die anhaltende Finanzkrise auf die Straße. Ministerpräsident Saad Hariri und seine Regierung sind bereits Ende Oktober zurückgetreten, doch der Protest hält an. Warum?
Nizar Hassan: Wir wollen eine Regierung, die unabhängig ist von den Parteien, Bankern und Immobilienspekulanten und nicht beeinflusst von der Elite, die seit 30 Jahren vom Wirtschaftssystem profitiert. Unabhängige Expert*innen sollen vorgezogene Wahlen organisieren, Schritte zur Bewältigung der Wirtschaftskrise einleiten und anfangen, die Korruption zu bekämpfen.
ist politischer Analyst, Aktivist und Podcaster in Beirut. Er ist Mitbegründer der politischen Bewegung "LiHaqqi" (Für meine Rechte) und setzt sich für die Rechte von Arbeiter*innen ein. In seinem Podcast „The Lebanese Politics Podcast“ analysiert er wöchentlich die libanesische Politik.
Wie können die Protestierenden ihr Ziel erreichen?
Am 17. Oktober haben wir erfahren, dass die Regierung eine Steuer auf WhatsApp erheben möchte, was die ärmsten Menschen unserer Gesellschaft getroffen hätte. Deshalb haben wir zum Protest aufgerufen. Das zog innerhalb weniger Stunden Tausende in die Innenstadt Beiruts. In den folgenden drei Tagen wurde daraus der größte Protest in der Geschichte Libanons. Das ganze Land war beeinträchtigt, täglich haben Menschen die Straßen blockiert, das normale Leben war unterbrochen. Jetzt sind wir in einer zweiten Phase. Es gibt gezielte Proteste vor öffentlichen Einrichtungen wie den Elektrizitäts- und Wasserwerken, die symbolisch für das Missmanagement und die Korruption stehen.
Wie reagiert die Regierung?
Sie verfolgt konterrevolutionäre Strategien. Es hat gewalttätige Angriffe gegen Protestierende gegeben, zum Beispiel kamen Unterstützer der schiitischen Parteien Amal und Hisbollah auf die Straße, um Demonstrant*innen zu verprügeln und ihre Zelte anzuzünden. Die Angriffe sollen nicht nur Protestierende abschrecken, sondern auch Anhänger*innen dieser Parteien davon abhalten, sich den Aufständen anzuschließen. Gleichzeitig versuchen andere Parteien, die Bewegung zu kooptieren, indem sie sich den Protesten anschließen. Das schafft den Eindruck von Rivalitäten und zerstört das Bild eines geeinten Aufstands.
Der Rücktritt Kurz nach Beginn der Proteste kündigte Ministerpräsident Saad Hariri Ende Oktober an, mit seinem gesamten Kabinett zurückzutreten. Eine Nachfolge ist jedoch noch nicht gefunden, sodass Hariri als Interims-Regierungschef weiter im Amt ist.
Die Nachfolge Am Sonntag hat sich mit dem Geschäftsmann Samir Chatib ein Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten zurückgezogen. Er ließ wissen, dass sich die Vertreter des sunnitischen Islam im Libanon für eine Rückkehr Hariris ausgesprochen hätten.
Das System Ministerpräsident muss in dem konfessionell gespaltenen Land stets ein Sunnit sein. Präsident Michael Aoun ist Christ, Parlamentspräsident Nabih Berri Schiit. (Jannis Hagmann)
Die Hisbollah stellt sich als Widerstandsbewegung gegen Israel dar, hat aber auch Abgeordnete im Parlament sitzen. In der letzten Regierung stellte sie drei Minister. Welche Rolle spielt sie?
Die Hisbollah ist die konterrevolutionäre Garde. Sie macht das, was alle Parteien möchten, aber nicht können: die Schuld auf sich zu laden, diejenigen zu sein, die gegen die Revolution sind. Sie kann sich das leisten, weil sie über die effektivsten Propagandamaschinen verfügt und am meisten Unterstützung in allen Altersgruppen hat, insbesondere bei jungen Menschen. Die Parteien im Libanon schützen nicht nur ihre eigenen Sitze im Parlament, sie schützen sich auch gegenseitig, die herrschende Klasse, das System. Sie versuchen zu verhindern, dass die Oligarchie, dieses System von Klientelismus und Korruption, zusammenbricht.
Hariri, der momentan nur kommissarisch im Amt ist, hat angekündigt, dass er nicht noch einmal kandidieren wird. Wie geht es weiter?
Hariri sagte, die nächste Regierung müsse den Forderungen der Menschen entsprechen, insbesondere denen der Frauen, die Führungsstärke bewiesen hätten. Damit könnte er den Weg für die Innenministerin der vorherigen Regierung, Raja Hassan, als Ministerpräsidentin bereiten. Sie arbeitet seit mindestens zehn Jahren eng mit ihm zusammen. Hariri könnte sie als erste Ministerpräsidentin der arabischen Welt verkaufen, zusammen mit Technokraten. Das würde wie eine „coole“ Regierung aussehen, aber weiter die wirtschaftliche Elite repräsentieren. Hassan ist zwar offiziell vom Tisch, aber ich glaube, ihr Name ist noch immer in der obersten Schublade. Aber wir können die Handlungen der herrschenden Klasse ebenso wenig vorhersagen wie die Antwort der Leute darauf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos