Aktivist über Antikriegsproteste in Russland: „Der harte Kern ist jung“
Immer mehr bisher unpolitische Menschen beteiligen sich an den Antikriegsprotesten in Russland, sagt der Philosoph Greg Yudin.
taz am wochenende: Herr Yudin, rund um die Welt kommt es zu massiven Protesten gegen den Krieg in der Ukraine. Auch in russischen Städten protestieren Menschen, Tausende werden verhaftet. Sie selbst landeten auch im Gefängnis. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Greg Yudin: Die Antikriegsbewegung in Russland ist im Entstehen, das zeigt die Zahl der Protestierenden und die der Verhafteten. Mehr und mehr Menschen realisieren das Ausmaß der gegenwärtigen Katastrophe. Dass das Zeit braucht, ist nicht überraschend. Russland ist vollkommen entpolitisiert. Die Menschen halten maximalen Abstand zur Politik, sie haben großes Misstrauen – und Angst. Der Ausbruch des Krieges war ein Schock für die große Mehrheit, der Ernst der Lage muss erst begriffen werden. Aber das geschieht. Das zeigt sich in der Hartnäckigkeit des Protests trotz aller staatlichen Repressionen.
Ist diese Hartnäckigkeit Ergebnis politischer Organisationsarbeit oder spontane Reaktion auf den Krieg?
Der harte Kern der Proteste besteht aus politisch engagierten jungen Menschen, die genug von Putin haben und durch die dramatische Eskalation auf die Straße gebracht werden. Aber die Proteste gehen weit über die üblichen Verdächtigen hinaus. Es gibt in der Bevölkerung kaum Enthusiasmus für den Krieg, ganz anders als 2014 bei der Annexion der Krim, trotz der Kriegspropaganda. Nur ein kleiner Teil unterstützt offen die militärische Aggression. Um die große Mehrheit in der Mitte wird es jetzt zentral gehen: Menschen, die sich bisher nicht für Außenpolitik interessiert haben.
Sie sind auch Demokratietheoretiker. Welche Rolle spielen Protest und öffentliche Appelle von Künstler*innen überhaupt in einer Situation staatlicher Medienkontrolle und Kriegspropaganda?
Subversive Proteste bringen der Öffentlichkeit ins Bewusstsein, dass es viel Widerspruch gibt. Je länger der Krieg dauert, desto offensichtlicher muss man sich positionieren. Viele haben Freunde und Verwandte in der Ukraine und bekommen von dort äußerst alarmierende Nachrichten. Nun, da Putin Streubomben gegen die ukrainische Zivilbevölkerung einsetzt, geht die Zahl der Opfer dramatisch in die Höhe. Auch die Zahl der Toten unter den russischen Soldaten steigt. Es sollte ein Blitzkrieg werden, läuft aber ganz anders. Die öffentliche Meinung wird sich mehr und mehr gegen den Krieg wenden, Duma-Abgeordnete und weitere bekannte Persönlichkeiten aus Kultur, Kunst und Wissenschaft haben bereits die Stimme erhoben. Das beeinflusst jene, die noch unentschieden sind und sich in ihre Alltagsroutinen flüchten. Wir sind an einem Wendepunkt: Entweder wird die Antikriegsbewegung schnell größer und gewinnt Einfluss auf die Politik – oder sie wird niedergeschlagen und wir stehen vor einer neuen politischen Ära.
Wie steht es um die russische Elite? Auf ihre Unterstützung konnte sich Putin bisher verlassen.
Die meisten Angehörigen der Elite schweigen, was allerdings auch vielsagend ist. Es gibt kaum öffentliche Unterstützung für den Krieg, nicht einmal von den Prominenten, die normalerweise das Sprachrohr der Elite sind. Je mehr die Stimme erheben, desto größer ist auch das Risiko eines harten Durchgreifens seitens des Regimes.
ist Professor für Politische Philosophie an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und gilt als eine der prominentesten Stimmen der aktuellen Antikriegsproteste in Russland. Er schreibt regelmäßig für die Onlineplattform opendemocracy und das russische Internetmagazin Republic.
Noch sind die Proteste klein: Warum sprechen Sie trotzdem von einem Wendepunkt?
Drei Faktoren üben großen Druck auf Putin aus. Erstens der unglaubliche und heroische Widerstand der Ukrainer. Der zweite Faktor ist die vereinte Reaktion des Westens und der globalen Staatengemeinschaft. Natürlich war Putin auf Sanktionen eingestellt, aber die Härte und Entschlusskraft haben ihn überrascht. Drittens gibt es die zunehmende Stimmung gegen den Krieg in Russland. All dies führt dazu, dass wir bald vor einem Wendepunkt stehen.
Wie könnte der aussehen?
Das düsterste Szenario: Putin lastet den wirtschaftlichen Zusammenbruch Feinden im In- und Ausland an. Russland wird ein totalitärer Staat mit geschlossenen Grenzen.
Ihnen zufolge handelt es sich bei dem Krieg auch um eine verzweifelte Verteidigung des russischen Status quo. Können Sie das näher erläutern?
In Russland war in den nächsten Jahren mit einem Volksaufstand gegen Putin zu rechnen, wie gegen Lukaschenko in Belarus. Putin will sicher sein, einen solchen Aufstand mit wirklich allen Mitteln niederschlagen zu können. Er steht sehr unter dem Eindruck von Gaddafis Ende in Libyen. Die Annäherung der Ukraine an den Westen ist für ihn eine existentielle Bedrohung. Daher erschien ihm Angriff als die beste Verteidigung. Wir müssen verstehen, dass er sich in der Defensive befindet. Wenn er jetzt verliert, ist er am Ende. Das macht die Situation so gefährlich: Jedes Zugeständnis erscheint ihm als existentielle Bedrohung.
Die westliche Linke scheint sich schwer damit zu tun, sich zu der neuen Situation zu verhalten. Sie haben daran appelliert, die Ukraine nicht im Stich zu lassen. Was folgt daraus für die politische Linke, ihren Antiimperialismus und Antimilitarismus?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Linke hat aufgrund berechtigter Kritik am US-amerikanischen Neoliberalismus und Imperialismus immer wieder den Fehler gemacht, politische Positionen zu unterstützen, die eine Alternative darzustellen scheinen. Aber was Putins Russland angeht, ist das ein vollkommenes Fehlurteil: Russland ist viel neoliberaler als die USA.
Wie meinen Sie das?
Die Gesellschaft ist völlig atomisiert, es herrscht ein konstanter Krieg aller gegen alle. Und natürlich ist der russische Staat auch ein imperialistischer. Es handelt sich um einen reaktiven Imperialismus mit eigener Dynamik: Der Staat fühlt sich stets in der Defensive und muss daher expandieren, um zu überleben. Putin ist ein Verschwörungstheoretiker. Politik ist für ihn eine Sache von Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, die dann gewaltsam durchgesetzt werden. Das Monster zeigt nun sein Gesicht und wird uns zu einer Neubewertung des neoliberalen Imperialismus zwingen. Wie konnte Putins Russland ein so wichtiger Bestandteil des globalen Wirtschaftssystems werden? Sein Verhalten stand nicht im Widerspruch zu diesem System, das auf ökonomischem Gewinn und Korruption aufbaut. Was wir erleben, ist ein Lehrstück über die Katastrophe, in die uns dieses System führen kann, wenn es nicht demokratisch oder zivilgesellschaftlich eingehegt wird.
Könnte die Katastrophe sich noch ausweiten?
Wir müssen jetzt die Gefahr erkennen, dass es nicht bei der Ukraine bleiben wird. Putin sieht Polen und die baltischen Staaten als zentrale Feinde. Daher muss er jetzt gestoppt werden, um so gut wie jeden Preis. Und daher muss der Widerstand gegen dieses System unterstützt werden, im Moment also der Widerstand in der Ukraine. Was in der Ukraine passiert, ist das Äquivalent zur Besetzung des Sudetenlandes 1938 durch die deutsche Wehrmacht. Zu sagen, Putin und die US-Regierung seien beide schlecht, wie es manche Linken tun, ist zwar oft richtig, führt aber nur zu leerem Gerede und keiner aktiven Positionierung. Jetzt ist höchste Zeit zum Handeln.
Welche Möglichkeiten der internationalen Solidarität gibt es in dieser Situation?
Am wichtigsten ist es, den Widerstand zu unterstützen, an erster Stelle in der Ukraine, aber auch in Russland und Belarus. Die Welt muss sich vereint gegen die Gefahr stellen und bereit sein, dafür auch den Preis zu bezahlen, selbst wenn er hoch ausfallen wird. Das ist die einzige Sprache, die Putin versteht. Olaf Scholz hat recht: Wir sind in einer neuen Ära. Es liegt nun an uns, wie die Zukunft aussehen wird. Jetzt ist es an der Zeit, zu seinen Prinzipien zu stehen und sich zu fragen, woran wir wirklich glauben und in was für einer Welt wir leben wollen.
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