piwik no script img

Aktionskünstler in MoskauProtest als Open-Source-Projekt

Statt Pflastersteine zu werfen, lässt der Aktionskünstler Artúr van Balen riesige Luftballons steigen. Und er gibt sein Wissen an andere weiter.

Moskau, 2017: „Wir sind im Kokon!“ – Aktion mit der aufblasbaren Raupe von Artúr van Balen Foto: Evgeniya Zubchenko

Moskau/Berlin taz | Es ist einer dieser klaren, kalten Herbsttage in Moskau, als Artúr van Balen seine Raupe freilässt. Die Raupe, die er gebastelt hat, ist 15 Meter lang. Er hat Wochen dafür gebraucht und Dutzende Rollen Aluverbundfolie.

Im Skulpturenpark an der Moskwa füllt Artúr van Balen sie mit Gas. Er hat zu einer Demonstration aufgerufen, aber es sind nicht viele Menschen gekommen. Nur ein paar Freunde, Journalisten, Mitarbeiter des Goethe-Instituts und eine Gruppe russischer Aktivisten. Einer von ihnen trägt eine Hasenmaske, die an Guy Fawkes erinnert. Sie sind gekommen, weil sie van Balen mögen – und weil sie das Projekt lustig finden. Und, sagt eine Studentin, weil auch sie nicht weiß, was die Zukunft bringt.

Deshalb die Raupe. Sie ist eine Metapher für die politische Veränderung, sagt Artúr van Balen. Sie wird sich einpuppen – und schließlich verwandeln.

Der silberne Hammer von Cancún

Artúr van Balen läuft um die Raupe herum, er klebt und drückt, stopft die Elektrik in einen Rollkoffer, den zwei seiner Freunde später unter der Raupe mitziehen werden. Die Raupe glänzt silbrig, die Lichterketten, die auf ihren Nähten kleben, leuchten mal lila, mal blau. Passend zur Raupe trägt Artúr van Balen eine silberfarbene Jacke und Schuhe.

Das mit van Balen und der fliegenden Kunst begann Ende 2010. Bei der Klimakonferenz im mexikanischen Cancún. Damals ging ein silberner Hammer durch die internationalen Medien. Ein zwölf Meter langer silberner Hammer aus Luft. Gebaut in Berlin und in einem Koffer nach Cancún verschickt, von Artúr van Balen und Künstlerkollegen. Getragen von Hunderten Händen wütender, aufgebrachter Klima­protestler. Die Idee übernahmen van Balen und Co von Karl Marx. Quasi wörtlich. Nach Marx ist Kunst kein Spiegel, den man der Wirklichkeit vorhält, sondern ein Hammer, mit dem man sie gestaltet.

Faschistische Raupen – Kunst oder Protest?

Die Kunst von Artúr van Balen besteht aus Luft und Plastik. Wenn man es kurz sagt. Die längere Version: Sie besteht aus gesellschaftlicher und medialer Aufladung. „Wir haben damals verstanden, dass aufblasbare Objekte sehr schnell Aufmerksamkeit auf sich ziehen können“, sagt van Balen. Und Aufmerksamkeit braucht jeder gute Protest. Und auch jeder gute Künstler.

Auf der Internationalen Biennale

Nach dem Hammer von Cancún gründete van Balen 2012 seine eigene Künstlergruppe – Tools for Action. Gemeinsam mit anderen Künstlern geht er in Schulen, in Protestcamps und zeigt, wie aus Isolierfolie fliegende Barrikaden werden. Wie man sie baut, wie man sie einsetzt. Und was mit einer Demo passiert, auf der nicht Pflastersteine, sondern Luftkissen geworfen werden. Protest und Kunst als Open-Source-Projekt. Mittlerweile verwenden Demonstranten van Balens silberne Pflastersteine auch in Paris, Barcelona oder in den USA.

Floating Utopias

Die Ausstellung "Floating Utopias. Balloons, Bubbles, Barricades" ist bis zum 24. Juni 2018 im Ausstellungsraum der Berliner nGbK zu sehen. Es werden auch Workshops veranstaltet. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Oktober flog er dann nach Russland, um sein neuestes Luft-und-Plastik-und-Protest-Projekt bei der Moskauer Internationalen Biennale vorzustellen: „Metamorphosis“. Kernstück der Ausstellung ist eben jene gigantische Raupe.

Diesmal stammt die Inspiration, das Vorbild aus dem Jahr 1934. Am Jahrestag der Oktoberrevolution demonstrierten die Menschen damals in Moskau mit einer riesigen aufblasbaren Raupe gegen den Faschismus in Deutschland. Auf die Stirn des Tieres hatten sie ein Hakenkreuz gemalt. Die Demonstranten trugen es auf ihren Händen über den Roten Platz.

„Wir leben im Kokon“

Artúr van Balen stellt sich vor die kleine Gruppe von etwa dreißig Menschen und strahlt sie an. „Im Moment verändert sich vieles“, sagt er auf Englisch. „Die Raupe “, sagt er und dreht sich zu dem großen silbernen Luftballon um, „wird sich verwandeln, aber es ist noch unklar, in was. Sie kann ein Schmetterling werden – oder eine Motte.“

Motte, das war der Tarnname des russischen Präsidenten Wladimir Putin, als er noch für den Geheimdienst gearbeitet hat.

„Sie kann auch etwas ganz anderes werden. Die Zukunft ist offen“, fährt er fort. Und auf Russisch sagt er: „Aber ich glaube immer noch, dass wir in einem Kokon leben.“

Auf sein Kommando treten die Zuschauer unter die Raupe und heben sie an. Sie tragen das Tier vorbei an den Skulpturen von Lenin, Breschnew, Karl Marx und Stalin. Menschen bleiben stehen, lachen. „Wofür demonstriert ihr?“, fragt einer. „Für die Revolution“, ruft der Mann mit der Hasenmaske.

Die Raupe passt nicht durch das Tor des Gorkiparks – die Demonstranten drücken und fluchen, sie pressen das Tier langsam zwischen den Stelen hindurch. Es klappt. „Super!“, ruft Artúr van Balen.

Schaut man ihnen aus der Ferne nach, wie sie in die Abenddämmerung laufen, sieht die Raupe aus wie ein riesiges silbriges Spermium, das über der Moskwa leuchtet.

Atelierbesuch in Berlin

Ein paar Tage später in Berlin. Artúr van Balen ist zurück aus Moskau und lädt zum Atelierbesuch. Eine Hinterhofgarage im Berliner Wedding. Durch eine grau geputzte Toreinfahrt geht es über Kopfsteinpflaster Richtung Lärm. Van Balens Ateliernachbar steht mit Blaumann und Atemmaske über einer Art grünem Plastikstein und säbelt. Im hintersten Winkel der Halle: van Balens Ecke. Eher Materiallager als kreatives Zentrum. Schreibtisch, Paletten und auf einer zweiten Ebene: noch mehr Paletten und glänzende Materialrollen. „PVC wird schnell brüchig“, sagt van Balen und zeigt auf eine der Rollen. Isolationsfolie gehe dagegen gut. Er greift sich eine Tonkugel vom Schreibtisch. Eine Art Minimodell für eines seiner Kunstwerke. Daneben: Prototypen desselben Modells aus Plastik in diversen Farben.

Aufblasbare Hämmer und faschistische Riesenraupen. Ist das jetzt Kunst oder Protest? Oder beides? „Ich sehe meine Kunst als soziale Plastik. Ich will etwas bewegen.“ Wie kommt man darauf, Kunst aus Luft zu machen? Aus seinem schwarzen Rucksack holt van Balen einen Laptop hervor. Der Markenapfel ist überklebt. Mit etwas, das aussieht wie Isolierfolie. „Ich zeige eine Powerpointpräsentation. Ist das okay?“, fragt er und berichtet dann von seinem Forschungsprojekt: die Mutter der Faschistenraupe.

Vor rund vier Jahren schickte ein Freund van Balen ein Schwarz-Weiß-Foto: der rote Platz in Moskau in den 1930er Jahren. Eine Menschenmenge, über deren Köpfen riesige Luftballons in Hausform schweben. Ein Foto als Initialzündung. Weil van Balen mehr über das Warum hinter dem Bild rausfinden wollte, fing er an zu suchen. In Archiven in Moskau und sankt Petersburg. Was sich ihm dort öffnete, bezeichnet er heute als Ballonmanie der 1930er Jahre. Und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks.

Kapitalismus vs. ideologische Kampfansage

Während in den USA schon seit den 1920ern große Figuren durch die Straßen paradierten – vor allem als Konsumaufruf des Kaufhauses Macy’s – erkannte die Sowjetunion erst Mitte der 1930er, welch ideologisches Potenzial riesige Ballons entfalten können. Artúr van Balen zeigt ein Bild auf dem Bildschirm. Zwei Fotos nebeneinander. Amerika versus Sowjetunion. Süßer Ballonelefant versus faschistische Raupe. Kapitalismus versus ideologische Kampfansage.

Luft und ihre Wirkung. Politisch, sozial, gesellschaftlich. Das ist, worum es van Balen geht. In seiner Kunst und seiner Forschung. Deshalb auch die Raupe. Quasi als Neuauflage der Geschichte. „Ähnliche Monster der Geschichte kommen wieder auf“, sagt van Balen. Die Raupe ist für ihn Mahnung und Zeichen der Hoffnung zugleich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!