Aktion gegen die US-Abschiebepolitik: Sie holen ihre Eltern zurück
Die Eltern von hunderttausenden Kindern wurden vor Jahren abgeschoben. Mit einer Aktion an der Grenze sollen sie wieder in die USA geholt werden.
Seither sind neun lange Jahre vergangen, in denen Lupita González in einer zerrissenen Familie aufgewachsen ist. Mit einem Vater, der ununterbrochen arbeitet, um die Kinder allein zu ernähren und zugleich selbst unter dem Damoklesschwert einer Abschiebung lebt. Und einer Mutter, die sich 4.200 Kilometer weiter südlich vor Sehnsucht verzehrt. Lupita hat ihre Mutter jeden Tag vermisst. Das Mädchen weigerte sich ein Jahr lang zu akzeptieren, dass ihre Mutter nicht nach Hause kommen würde. Dann wurde es zum Psychologen geschickt. Zugleich war Lupita für ihren kleinen Bruder verantwortlich. Seit sie vor sechs Wochen selbst ein Baby bekam, fehlt ihr der mütterliche Rat und Beistand noch mehr. „Ich brauche sie“, sagt sie.
Bislang hat Lupita González allein gelitten. Aber in dieser Woche fährt die 18-Jährige zusammen mit einer Gruppe von anderen getrennten Kindern und jungen Erwachsenen aus New York, Chicago und Texas an die Grenze. Am Mittwoch wollen sie in Ciudad Juárez, auf der mexikanischen Seite, ihre Mütter und Väter treffen, die aus dem Süden in die Grenzstadt anreisen. Von dort aus werden Kinder und Eltern gemeinsam – begleitet von Geistlichen und EinwanderungsexpertInnen – auf die Brücke gehen, die Ciudad Juárez von El Paso, USA, trennt, um Asylanträge zu stellen. „Die Kinder leiden“, begründet Myrna Lazcano von der Gruppe Movimiento de Mujeres Migrantes (MOMUMI), eine der InitiatorInnen dieser Aktion: „Die Eltern brauchen Asyl aus humanitären Gründen.“
Mehrere hunderttausend Kinder in den USA sind Opfer der Familientrennung, die aus Massenabschiebungen resultiert. Allein zwischen 2011 und 2014 hat die Abschiebebehörde Immigration and Customs Enforcement (ICE) nach eigenen Angaben mindestens ein Elternteil von einer halben Million US-amerikanischer Kinder abgeschoben.
Seit Donald Trumps Einzug in das Weiße Haus haben sich die Abschiebungen noch weiter ausgebreitet. Mehr als vier Millionen Minderjährige leben gegenwärtig mit mindestens einem papierlosen Elternteil in den USA. Ihnen allen droht ebenfalls das Schicksal, zu „ICE-Waisen“ wie Lupita zu werden.
„Es ist ein trauriges, schwieriges Leben“
Wie die „ICE-Waisen“ leiden, hat Gretchen Buchenholz, Vorstandsmitglied der Association to benefit Children, die sich in New York um die Betreuung von Kindern kümmert, in ihrem Berufsalltag erlebt. Bei einer Versammlung in Harlem beschreibt sie die „traurigen Augen“ von Kindern und die „Schnitte in die eigene Haut“ eines kleinen Mädchens, das sie betreut hat. In den betroffenen Familien erleben SozialarbeiterInnen auch die Häufung von Schulversagen, Depressionen, Drogenabhängigkeit sowie von Verelendungen, die zu Hausräumungen führen, weil plötzlich nur noch die Hälfte des Einkommens in die Familienkasse kommt und das Geld nicht mehr reicht. Für Buchenholz sind die Familientrennungen aus all diesen Gründen: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“
Der heute 16-jährige Marco ist wie Lupita González ein US-Staatsangehöriger. Daher kann er, im Gegensatz zu seinem papierlosen Vater, legal über die Grenze reisen. In den acht Jahren seit der Abschiebung seiner Mutter hat er mehrfach längere Perioden bei ihr und andere bei seinem Vater in New York verbracht. „Es ist ein trauriges, schwieriges Leben“, sagt der 16-Jährige mit Zahnklammer, „ich möchte meinen Vater und meinen Mutter an meiner Seite haben.“ Marco nimmt in dieser Woche an der Karawane teil, um die Mutter zu holen. Der Vater kommt nicht mit, weil jede Polizeikontrolle für ihn ebenfalls mit Abschiebung enden könnte.
Während die OrganisatorInnen die Karawane vorbereiten, geht Trumps rabiate Einwanderungspolitik weiter. Von den mehr als 2.500 Kindern, die im Frühsommer an der Grenze von ihren Eltern getrennt wurden, sind 497 immer noch in der Hand der US-Behörden. Der Aufenthaltsort von zwei Dritteln ihrer Eltern ist unbekannt, seit die US-Behörden sie in aller Hast in ihre gefährlichen Herkunftsländer in Mittelamerika abgeschoben haben.
MOMUMI-Organisatorin Myrna Lazcano weiß, wie rau die politischen Umstände in den USA sind. Sie weiß, dass es trotz der moralischen Verpflichtung und trotz internationaler Abkommen über die Zusammengehörigkeit von Familien keine Erfolgsgarantie für die Asylanträge auf der Brücke gibt. Aber sie will trotzdem das Zeichen setzen. Sie zitiert einen Satz des mexikanischen Revolutionärs Emiliano Zapata: „Willst du Adler sein, flieg! Willst du Wurm sein, kriech! – aber beklag dich hinterher nicht, dass du getreten wirst.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku