Airwars.org über zivile Opfer in Mossul: „Ein katastrophaler Vorfall“
In Mossul sind womöglich hunderte Zivilisten durch einen Luftschlag getötet worden. Chris Woods, Direktor der NGO airwars.org, über die Hintergründe.
taz: Herr Woods, bis zu 240 Zivilisten sollen bei einem Luftangriff der US-geführten Koalition im Westteil von Mossul getötet worden sein. Ist das der Kollateralschaden, den es im Kampf gegen den IS zu akzeptieren gilt?
Chris Woods: Mit der Befreiung der Zivilisten geht immer ein Risiko einher. Nach UN-Angaben sitzen 400.000 Zivilisten in den Gebieten unter IS-Kontrolle in Mossul fest. Aber niemals sollten wir das, was euphemistisch Kollateralschaden genannt wird, akzeptieren. Man kann in einer Stadt nicht Luftschläge und schwere Artillerie einsetzen, ohne erhebliche zivile Opfer zu verursachen. 200 tote Zivilisten – dies scheint die höchste Opferzahl durch einen Luftangriff in vielen Jahren zu sein. Einige argumentieren, dass man bis in die 90er zurückgehen muss, um Vergleichbares zu finden.
Ist bekannt, wer den Luftangriff flog?
Die USA haben bestätigt, dass die Koalition am 17. März Luftschläge in dem Viertel Al-Dschadida durchgeführt hat. Es gibt also keinen Zweifel daran, dass an dem katastrophalen Vorfall die Koalition, irakische Truppen und vielleicht auch der IS beteiligt waren. Die Situation ist komplex, viele Parteien involviert. Hinzu kommt, dass insgesamt fünf Koalitionsparteien regelmäßig Mossul bombardieren: Frankreich, Australien, Belgien, die USA. Großbritannien hat an diesem Tag Luftschläge in Mossul bestätigt. Wer genau was getan hat, wird vielleicht nie ans Licht kommen.
Die Offensive gegen den IS in Mossul läuft seit Oktober. Warum hören wir erst jetzt von den vielen zivilen Opfern?
In Ost-Mossul gab es in den Reihen der irakischen Truppen beim Versuch Zivilisten zu schützen viele Opfer. In West-Mossul sehen wir nun teilweise einen Kompromiss: Um Tote und Verletze in den irakischen Truppen zu verhindern, fordern sie Luftschläge oder Artillerieeinsatz an, statt selbst in die Häuser heineinzugehen und den IS dort zu bekämpfen.
ist Direktor der in London ansässigen NGO airwars.org, die den Luftkrieg gegen den IS und andere Gruppierungen im Irak sowie in Syrien und Libyen dokumentiert.
Gab es nicht auch Luftschläge in Ost-Mossul?
Ja, sehr starke. Aber die Ost-Mossul-Kampagne war etwas anderes. Die Stadt dort ist suburban geprägt, die Bevölkerungsdichte viel geringer. Und viele Zivilisten konnten fliehen. In West-Mossul ist auch Armut ein wichtiger Faktor. In den dichter bevölkerten Stadtteilen haben viele nicht die Möglichkeit, sich mithilfe von Bestechungsgeldern aus der Stadt zu machen. Sie sitzen fest.
Wie läuft ein Luftangriff genau ab? Wer entscheidet, wer führt aus?
Es gibt zwei Arten von Luftschlägen im Irak: Sogenannte „pre-planned strikes“, die sich auf Geheimdienstinformationen stützen, und sogenannte „dynamic strikes“ – wie fast alle in Mossul. Diese werden oft sehr kurzfristig durchgeführt. Die Maschinen stehen bereit und werden vom Boden, direkt von der Front aus angefordert. Diese Luftschläge dienen der Unterstützung der Straßenkämpfe.
Über was für Maschinen reden wir?
Über Helikopter, Drohnen sowie Kampfjets, die gezielte Luftschläge ausführen und auch starke Bombardements.
Spielen diese Form der Kriegsführung und die hohen Opferzahlen dem IS in die Hände?
Nein, wir nähern uns einer Zahl von 20.000 Luftschlägen gegen den IS im Irak und in Syrien seit 2014. Das ist eine riesige und sehr effektive Kampagne. Der IS fürchtet die Luftwaffe.
Wie nutzt der IS Zivilisten in seiner Kriegsführung?
Der IS hindert Zivilisten daran, West-Mossul zu verlassen. Es gibt unzählige Berichte darüber, wie der IS Zivilisten, die fliehen wollen, in den Straßen durch Scharfschützen exekutieren lässt. Es gibt auch Berichte, dass der IS Zivilisten an bestimmten Orten in Gruppen zusammenführt, um sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Selbst Spekulationen sind im Raum, dass der IS Luftschläge auf dicht besiedelte Wohngebiete provoziert. Hohe zivile Opferzahlen sind ein effektives Propagandainstrument des IS.
Im vergangenen Jahr hat Russland die syrische Stadt Aleppo heftig bombardiert und zivile Opfer in Kauf genommen. Ist die Kriegsführung Russlands mit der der Koalition vergleichbar?
Bis vor kurzem hätte ich das nicht miteinander verglichen. Aber seit den letzten Monaten von Obamas Amtszeit und besonders in diesem Monat steigen die Opferzahlen in Mossul erheblich. Im März haben wir mehr als 110 Fälle dokumentiert, in denen die Koalition Zivilisten getötet haben soll. Allein bis zum Wochenende sollen mindestens 1.300 Zivilisten durch die Koalition getötet worden sein. Das sind zwar grobe Schätzungen. Sie sind aber ein brauchbarer Indikator. Und diese ersten Rohdaten sind vergleichbar mit der Zahl der Opfer durch russische Aktionen.
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