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Afghanistan im Nebel der StatistikKaum realistische Einschätzungen

Täglich gibt es in Afghanistan Anschläge, der Krieg geht weiter. Die Nato und ihre Infomaschine reden die Situation schön.

Der Alltag geht irgendwie weiter: Eine afghanische Familie in Kunar. Bild: dapd

BERLIN taz | Wie sicher ist Afghanistan? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Im Gegenteil: Die Informationen über die Lage in dem Land am Hindukusch sind oft widersprüchlich. Verschiedene Organisationen sammeln ganz unterschiedliche Daten und ziehen daraus ihre jeweils eigenen Schlussfolgerungen. Keiner dieser Datensätze allein ist verlässlich.

Nur so viel ist klar: Der Krieg geht weiter. 140.000 Nato- und 352.000 afghanische Soldaten sowie Polizisten haben die Aufständischen nicht schlagen können.

Als wichtige Quellen für die Sicherheitslage gelten die von der Nato geführte Schutztruppe Isaf und das Afghanische NGO-Sicherheitsbüro Anso, das seit Jahren im Land arbeitet. Die Isaf-Militärs veröffentlichen nur Daten über sogenannte vom Feind initiierte Attacken auf die eigenen Truppen – aber nicht solche auf die afghanischen Verbündeten.

Abzug bis 2015

„Gemeinsam rein, gemeinsam raus“ ist das Motto der internationalen Truppen für den Rückzug aus Afghanistan. Von der Nato offiziell beschlossen wurde der Abzug zum Ende 2014. Nach 13 Jahren soll das Isaf-Mandat auslaufen.

Doch werden auch ab 2015 noch Nato-Soldaten im Land sein, laut Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) als „Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission“. Voraussichtlich werden aber auch Kampftruppen diese Ausbildungskräfte begleiten – man traut den afghanischen Kräften dann doch nicht so ganz. Erst am Mittwoch forderte US-Verteidigungsminister Leon Panetta von den Nato-Partnern mehr Ausbildungstruppen.

Das Bundeswehrlager Faisabad wurde am Dienstag an afghanische Behörden übergeben, doch der Abzug aus den großen Standorten Masar-i-Scharif und Kundus in Nordafghanistan ist für die Bundeswehr eine logistische Herausforderung. Und ist teuer: Fliegen kostet, für den Landweg muss man in Pakistan offenbar hohe Bestechungsgelder zahlen. (uwi)

Auf der anderen Seite registriert Anso nur „NGO-relevante“ Zwischenfälle, also zählt alles, was die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen beeinflussen kann: Angriffe auf Hilfsprojekte ebenso wie Taliban-Straßensperren – oder wenn US Marines wieder einmal eine NGO-geführte Klinik als zeitweiligen Gefechtsstand übernehmen. Hinzu kommen gewöhnliche Verbrechen, mit denen die Aufständischen nichts zu tun haben.

Deutsche Organisationen vor Ort – staatliche, nichtstaatliche und Stiftungen – werden vom Risk Management Office auf dem Laufenden gehalten, finanziert vom deutschen Entwicklungsministerium (BMZ). Die UN-Mission in Afghanistan berichtet jährlich über zivile Opfer des Konflikts.

Auch die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC), deren Vorsitzende Sima Samar gerade den Alternativen Nobelpreis für ihre Arbeit erhielt, erhebt Daten. Die Kommission unterhält sieben Regionalbüros außerhalb Kabuls. Weil ihr Personal nicht zu allen Regionen Zugang hat, kann sie viele Vorfälle nicht untersuchen, die dann auch nicht in die Statistik eingehen.

Fazit: Nur wenn man all diese Angaben unterschiedlichster Herkunft zusammennimmt, nähert man sich einer realistischen Einschätzung.

Abzug 2014

Welche Schlussfolgerungen aus diesen Daten gezogen werden, hängt nicht zuletzt von der Interessenlage der unterschiedlichen Akteure ab. So ist den Mitgliedern der Nato daran gelegen, ein möglichst positives Bild von der Lage zu zeichnen. Grund: Sie will sicherstellen, dass die meisten Kampftruppen im Jahr 2014 aus dem zunehmend unpopulär gewordenen Afghanistaneinsatz abgezogen werden können. Die Transparenz bei Isaf hat zuletzt nachgelassen, mit der Begründung, die afghanische Regierung sei nun zuständig.

Allerdings sind auch die Politiker in Kabul weder in der Lage noch willens, systematisch zu informieren. An realistischen Einschätzungen ist ihnen ebenso wenig gelegen. Die renommierte International Crisis Group (ICG) – in deren Vorstand unter anderen Kofi Annan und Joschka Fischer sitzen – warnte am Montag, dass Afghanistan „weit davon entfernt“ sei, „bis 2014 die Sicherheitsverantwortung übernehmen zu können“.

Der Regierung drohe der Zusammenbruch, wenn bei der nächsten Präsidentschaftswahl erneute Fälschungen zu einer „Verfassungskrise“ führen. Daraufhin schoss Kabul zurück: Der Bericht sei ein Auftragswerk „ausländischer Geheimdienste“, um die Karsai-Regierung zu unterminieren.

Weniger Taliban-Angriffe

Sieht man sich die aktuellsten Statistiken von Anso und Isaf an, könnte man tatsächlich schlussfolgern, die Lage in Afghanistan habe sich gebessert. Anso zufolge sank die Zahl der Taliban-Angriffe im ersten Halbjahr 2012 gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum um 38 Prozent.

Die UNO verzeichnete für den gleichen Zeitraum 22 Prozent weniger zivile Konflikttote, bemerkte aber sogleich, dass die jährliche Sommerkampfsaison noch bevorstehe. US-Verteidigungsminister Leon Panetta behauptet kürzlich sogar, das „Momentum der Taliban“ sei gebrochen.

Die Isaf verzeichnete aber in den Sommermonaten nur kaum geringere Taliban-Aktivitäten als im Vorjahr. Sie liegen zwar deutlich unter dem Spitzenjahr 2010, aber ebenso deutlich über dem Niveau aller Jahre davor.

Laut Anso gab es 10.114 Taliban-Angriffe in sechs Monaten, das sind 55 pro Tag. Die Taliban sind inzwischen ausnahmslos in allen Provinzen aktiv. Sie bringen fast täglich gezielt Regierungsanhänger um, von Polizisten bis zu Mullahs. Wenn Afghanen über Land fahren, löschen sie alle kompromittierenden Telefonnummern aus ihren Handys. Mitte September drang ein Kommando von Taliban in US-Uniformen und mit abrasierten Bärten in ein Nato-Camp in Südafghanistan ein und schoss acht Kampfjets in Brand.

Zudem reicht es nicht, Sicherheit nur militärisch zu definieren. „Die Menschen leiden nicht nur an den Auswirkungen des bewaffneten Konflikts“, unterstrich am Montag der scheidende Leiter des Internationalen Roten Kreuzes in Kabul, Reto Stocker. „Ihre Leiden infolge der Wirtschaftslage, von Wetter- und Naturkatastrophen haben zugenommen, und die Zukunftshoffnungen sind stetig gesunken.“

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