Ärzte pro Volksinitiative Pflegenotstand: „Menschenunwürdig versorgt“
136 Hamburger Ärzte appellieren an Senatorin, auf die „Volksinitiative Pflegenotstand“ zuzugehen. SPD und Grüne verweisen auf den Bund, bieten aber Gespräche an.
Die Volksinitiative fordert eine alte Regelung zurück, die es zu Beginn der 1990er-Jahre schon mal gab. Demnach müssten die Kliniken regelmäßig den tatsächlichen Bedarf in Arbeitsminuten messen, wie viel eine Pflegekraft pro Patient braucht, und diesen Bedarf auch abdecken. Zudem sollte Hamburg seine Investitionen in die Kliniken erhöhen. Denn es gibt Fallpauschalen, die Investitionen mit abdecken. Fehlt den Krankenhäusern Investitionsgeld, würde dies aus der Pflege genommen.
Wie sich der Notstand auswirkt, schilderte Initiativensprecherin Kirsten Rautenstrauch im Juli dem Gesundheitsausschuss und bezog sich auf Berichte von Patienten, Ärzten und Pflegekräften: „Es ist zur Tagesordnung geworden, dass Patienten stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen gelassen werden.“ Oft würden, um Nässe zu vermeiden, unnötigerweise Dauerkatheter gelegt. Doch das sei ein massiver Eingriff in die Selbstbestimmtheit.
Patienten bekämen Infusionen, weil die Zeit fehle, ihnen zu trinken zu geben. Und es würden Patienten auf Überwachungsstationen die Hände fixiert, damit sie ihre Atemmaske nicht abreißen. „Zunehmend kommt es vor, dass Kollegen am Ende der Schicht in Tränen ausbrechen“, sagte Rautenstrauch. „Trotz Dauerlaufs sind die Patienten menschenunwürdig und unethisch versorgt worden.“
Das Bundeskabinett hat Personaluntergrenzen in Kliniken beschlossen. Noch gibt es Streit um die Grenzen: ob die untersten zehn oder 25 Prozent ihr Personal auf den Wert der Übrigen anpassen müssen.
Die Volksinitiative will eine Regelung im Landesgesetz, die sich am Nötigen orientiert.
Gibt es keine Einigung mit Rot-Grün, meldet sie Ende Oktober ihr Volksbegehren an. Der Senat erwägt, dann zu klagen.
Diese Lage sei Folge einer 25-jährigen „Verdichtung“, ergänzte Co-Sprecher Christoph Kranich. Es müssen mehr Patienten in kürzerer Zeit intensiver versorgt werden. Und es gebe mehr Ärzte, aber weniger nichtärztliches Personal.
Beim Ziel, die Pflege zu verbessern, sei man auf einer Seite, sagen Prüfer-Storcks und auch die Gesundheitsausschussvorsitzende Christiane Blömeke (Grüne). Doch Alleingänge Hamburgs könnten die Kliniken in Schieflage bringen. Beide warnen vor einer „Insellösung“, der sei Bund zuständig.
In der Tat wurde just am Mittwoch im Kabinett das „Pflegepersonal-Verstärkungsgesetz“ von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beschlossen. Das regelt, dass künftig die Pflegekosten aus den Fallpauschalen ausgegliedert und von den Kassen extra vergütet werden.
Hamburg habe das sehr unterstützt, sagt Prüfer-Storcks: „Damit gibt es keinerlei Anreiz für die Krankenhäuser mehr, in der Pflege zu sparen.“ Zudem soll es künftig für jedes Krankenhaus individuell errechnet und publiziert eine Untergrenze an Personal geben, deren Unterschreiten mit Leistungskürzungen bestraft werden soll.
Die Initiative ist damit nicht zufrieden. „Es wird sich nach unserer Einschätzung hier wieder nicht am Bedarf der Patienten orientiert“, sagt Sprecher Axel Hopfmann. „Das ist so, als ob man aus einer Note 5 eine 4 minus macht. Wir wollen, dass sie gut ist.“ Immerhin haben SPD und Grüne die Initiative zu Gesprächen eingeladen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken