Ärger mit dem Sozialticket: Die Leute können nicht warten
7.000 Menschen kassierten ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“, weil ihnen unverschuldet die „Kundenkarte S“ fehlte. Die Sozialverwaltung ist machtlos.
Der Antrag gleicht einer Schnitzeljagd durch Berlin. Denn die 59-Jährige hat zu Hause kein Internet – und ohne Netz gibt es nur eine Möglichkeit: Am Eingang des BVG-Kundencenters am Alex befindet sich ein unscheinbarer Briefkasten mit der Aufschrift „Hier Anträge für VBB-Kundenkarte Berlin S einwerfen“. Fehlt dann aber ein Dokument oder das Passfoto, erhält man erst Wochen später Post – Zeit, in der man keinen Fahrschein hat.
Rund 7.000 Menschen haben laut BVG von Anfang Oktober bis zum Stichtag 9. Januar bei Kontrollen ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ (EBE) über 60 Euro aufgebrummt bekommen, weil sie – in der Regel unverschuldet – die neue VBB-Kundenkarte S nicht vorweisen konnten. Zwar können Betroffene „zeitnah“ die Karte nachreichen, dann wird das EBE erlassen. Sieben Euro „Verwaltungsgebühr“ müssen sie dennoch bezahlen – also fast so viel, wie das Sozialticket mit 9 Euro selbst kostet. Auch bleibt ihnen der Ärger und die Rennerei zum Kundenzentrum nicht erspart.
Das Problem ist bekannt. Seit einem Jahr, als zum Jahreswechsel 2022/23 der „Berlin Pass“ abgeschafft wurde, sind die beteiligten Ämter – Jobcenter, Sozialämter, Wohngeldstellen und das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) – oft nicht in der Lage, rechtzeitig allen Berechtigten den neuen „Berechtigungsnachweis“ zuzuschicken, mit dem allein man die VBB-Kundenkarte S beantragen kann. Oder aber die BVG braucht wochenlang, selbige Karte zuzusenden – das ist nach taz-Information vor allem bei auf dem Papierweg bestellten Kundenkarten weiterhin der Fall.
Der langsame Briefkasten
Atanaska Prodanova hat es auch schon mit dem Briefkasten am Alex versucht – vergeblich. Erst nach drei Wochen erhielt sie eine Rückmeldung über fehlende Dokumente. Als sie es das nächste Mal online versuchte, hatte sie die Karte innerhalb einer Woche in ihrem Briefkasten. Der Postweg hat sie Zeit gekostet – und Geld, weil sie als Zwischenlösung ein Deutschlandticket-Abo abgeschlossen hat. Deshalb steht sie am Dienstag in der Schlange vor dem Kundencenter: Sie will das Abo jetzt kündigen.
Birgit Dagadelen hat schon öfter etwas in den Briefkasten eingeworfen, nach Wochen Post bekommen, und wieder klappte es nicht. Weil die Mitarbeiter:innen ihr nicht weiterhelfen konnten, hofft sie nun auf ihr Glück in der Unternehmenszentrale am Holzmarkt. Doch der Mitarbeiter rät Dagadelen nur, die Unterlagen per Einschreiben zu schicken. Sie lacht: „Dafür reicht das Geld nicht.“ Sie macht sich auf den Weg nach Hause, um die fehlenden Unterlagen abzuholen. Dann wird sie ihr Glück erneut mit dem Briefkasten versuchen. Eine andere Möglichkeit bleibt ihr nicht.
So geht es vielen Sozialticket-Berechtigten. Die Folge: Sie können über Wochen nicht mit der BVG fahren – es sei denn, sie riskieren es, beim Fahren ohne gültige Fahrkarte erwischt zu werden, oder sie kaufen teure Einzelfahrscheine. Übergangsweise galt bis Ende September der Leistungsbescheid der zuständigen Behörde als Nachweis, dass man berechtigt ist, mit Sozialticket zu fahren. Aber seit das nicht mehr gilt, verteilt die BVG „großzügig“ EBEs. Es gebe „tariflich“ keine andere Möglichkeit, erklärte ein BVG-Sprecher der taz im Dezember.
„Das kann doch nicht wahr sein. Warum verwehrt man uns die Teilnahme am öffentlichen Leben? Dass die Ämter nicht klarkommen, ist doch nicht unsere Schuld“, empört sich taz-Leserin Christiane G. aus Gesundbrunnen. Die 59-jährige Bürgergeldempfängerin bleibt seit Wochen zu Hause, weil sie sich das Bahnfahren gerade schlicht nicht leisten kann. Seit Ende November wartet sie auf ihren Berechtigungsnachweis. Den bekommen Jobcenter-Kunden zentral von der Bundesarbeitsagentur in Nürnberg zugeschickt – eigentlich. Oft klappt es aber nicht, „zweimal habe ich das schon brieflich angemahnt“, sagt G., die aus Angst vor negativen Konsequenzen ihren richtigen Namen nicht nennen will. „Warum handelt der Senat nicht?“, will sie wissen.
Zurück zum Berlin Pass?
Das fragt auch der Abgeordnete Taylan Kurt, bei den Grünen zuständig für Sozialpolitik. „Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe muss jetzt sofort die alte Übergangslösung wieder in Kraft setzen“, fordert er. Zudem solle sie sich für einen Erlass einsetzen, der die bisher erteilten Bußgelder der BVG wieder aufhebt.
Auch Politiker anderer Parteien hatten im November im Sozialausschuss die Rückkehr zur Übergangsregelung beziehungsweise zum alten Berlin Pass gefordert – zumindest so lange, bis die neue Regelung mit dem Berechtigtennachweis funktioniere. Der zuständige Sozial-Staatssekretär Aziz Bozkurt (SPD) hatte sich auf taz-Anfrage einsichtig gezeigt, dass der eingeschlagene Weg wohl nicht der richtige sei. Doch wie es weitergehen solle, wusste er nicht zu sagen.
Seither scheint in der Sache nichts geschehen zu sein. Man habe keine Einflussmöglichkeiten auf die Arbeitsweise der BVG bezüglich Bußgeldern, erklärte Kiziltepes Sprecher am Dienstag der taz. Man sei aber „mit den Beteiligten in Gesprächen, um eine kurzfristige und pragmatische Lösung für die Betroffenen zu finden“.
Taylan Kurt reicht das nicht. Die Senatorin müsse dem Problem endlich höchste Priorität einräumen: „Wir bringen Menschen mit einem Bein ins Gefängnis, wenn sie ihr Bußgeld nicht bezahlen können, das sie nur bekommen, weil die Verwaltung ihre Arbeit nicht hinbekommt. Wie lange sollen die Leute noch warten?“
Bevor sie geht, holt Dagadelen eine lilafarbene Karte aus ihrem Portemonnaie. Ein Relikt aus einfacheren Zeiten. „Der Berlin Pass war eine wunderbare Sache“, sagt sie. Die Papierkarte ist in der Mitte zerrissen, sie hält beide Stücke vorsichtig in der Hand. Als der Berlin Pass noch gültig war, hieß es Hartz IV, heute gibt es Bürgergeld und die Berlin S-Karte. „Das ist der absolute Wahnsinn“, sagt Dagadelen. „Ich würde gerne den Menschen kennen lernen, der sich das ausgedacht hat.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Deutsche und das syrische Regime
In der Tiefe