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Änderung des WahlrechtsDer Mensch an den Stellschrauben

Unsere Autorin wünscht sich, an der Wahl für den CDU-Vorsitz teilzunehmen – es geht ja um ihre Zukunft. Warum nicht den Kanzler direkt wählen?

Wer hier als nächstes sitzt, entscheidet die CDU: Stuhl von Angela Merkel am Kabinettstisch Foto: imago

N och nie habe ich bisher heftige Gefühle bei der Frage entwickelt, wer den Vorsitz der CDU übernimmt. Warum auch? Personalfragen in Organisationen, denen ich distanziert gegenüberstehe, mögen mich inte­ressieren – aber Leidenschaft entsteht da bei mir im Regelfall nicht. Ich fiebere ja auch nicht mit, wenn Machtfragen bei Springer oder Daimler entschieden werden. Zu meiner eigenen Überraschung ist das aber in diesem Jahr beim CDU-Vorsitz anders.

Wenn ich mir das Ringen um den Posten anschaue, dann fühle ich mich ein bisschen wie bei der Beobachtung des Wahlkampfs in den USA. Ob Donald Trump oder Joe Biden die Wahl gewinnen, hat unmittelbaren Einfluss auf mein Leben – die Chancen für die Bekämpfung der Klimakrise ist eines von vielen Stichworten –, aber dennoch darf ich nicht mitreden. Ich kann nur auf die Vernunft von anderen Leuten hoffen, in dem Fall: der US-Bevölkerung.

Ähnlich ist es jetzt bei der Frage, wer CDU-Vorsitzender wird. Wenn nicht alle Meinungsforschungsinstitute irren und zugleich der Mond vom Himmel fällt, dann stellt die Union den nächsten Kanzler. Entschuldigung, Frau Baerbock, Verzeihung, Herr Scholz. Die Entscheidung über die Führungsspitze der Christdemokraten ist eine wichtige Weichenstellung.

Den Kanzler wird die Union stellen

Das sei doch früher oft auch nicht anders gewesen? Stimmt. Aber damals waren die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Parteien so groß, dass die Frage vergleichsweise unbedeutend schien, wer den Vorsitz in einer Gruppierung hatte, die man ohnehin nicht wählen würde.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass diese Unterschiede inzwischen weitgehend verschwunden sind. Erinnert sich noch jemand, wer in Berlin einen großen Teil des Bestands an öffentlichen Wohnungen an Finanzinvestoren verkauft hat? Genau, es war ein rot-roter Senat. So viel dazu.

Sehr lange war ich fest überzeugt, dass Geschichte nicht von einzelnen Personen geschrieben wird, sondern dass es vielmehr Machtverhältnisse und gesellschaftliche Entwicklungen sind, die Verhältnisse ändern. Oft infolge neuer Erfindungen wie der Dampfmaschine. Vielleicht ist diese Sicht auch nicht falsch. Aber wenn – wie derzeit – ein System, nämlich der Kapitalismus, unangefochten ist oder zu sein scheint: dann gewinnen einzelne Personen eben doch an Bedeutung. Und sei es nur, um an einzelnen Stellschrauben zu drehen.

Es ist mir nicht egal, ob Trump oder Biden die Wahl in den USA gewinnt. Es ist mir auch nicht gleichgültig, wer der nächste Kanzler in Deutschland wird. Und zumindest hierzulande möchte ich darüber mitbestimmen können. Das ist, wie ich finde, das Mindeste, was ich von einer Demokratie erwarten kann.

Die Konsequenz? Vielleicht wäre es doch an der Zeit, über eine Direktwahl eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin nachzudenken. Ja, ja, ja: Ich weiß, dass das innerhalb unseres Systems schwierig ist, ich kenne auch die Gefahren, die eine solch grundlegende Veränderung des Wahlrechts in sich birgt. Aber es ist nicht nötig, immer nur über Gefahren zu reden. Man kann auch mal über Chancen sprechen.

Zum Beispiel darüber, dass solch ein Zweikampf – oder von mir aus: Sechskampf – mehr Leute dazu bringen würde, nicht mehr „alle Politiker“ über einen Kamm zu scheren, sondern sich konkret zu überlegen, wem sie mehr vertrauen und wem weniger. Im Zusammenhang mit Corona haben wir uns doch daran alle ohnehin schon gewöhnt, unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit der Verantwortlichen. Was spricht eigentlich dagegen, diese neu geübte Haltung auch auf andere Bereiche der Politik zu übertragen? Wenig, wie ich finde.

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Bettina Gaus
Politische Korrespondentin
Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).
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6 Kommentare

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  • die direktwahl der bundeskanzler*in würde diese*r sehr viel mehr macht geben.dass wäre auch dann gefährlich wenn sich die parlamentarische demokratie nicht schon lange im niedergang befinden würde.

    grosse staaten sollten keine direkt gewählten staatsoberhäupter oder premierminister*innen haben.und also auch keine direkt gewählten bundeskanzler*innen-denn diese



    sind ja funktional quasi-dasselbe wie premierminister*innen

  • Eine Direktwahl änderte leider weder etwas am Feld der Kandidaten, noch an der medialen Unsitte, Kandidaten ins Rennen zu schreiben, die gar nicht angetreten sind.

  • 7G
    75787 (Profil gelöscht)

    "sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung".

    Raul Zelik konstatiert in "Wir Untoten des Kapitals": "...Für die europäische Linke stellte das Regieren in den vergangenen vier Jahrzehnten sehr oft keine "Machtoption" dar. Jene (Mitte-)Links-Regierungen, die sich nicht von selbst darauf beschränkten, den Staat im Interesse des Kapitals zu verwalten, wurden innerhalb kürzester Zeit dazu gezwungen. Möglich war das, weil die gesellschaftliche Machtressourecen höchst ungleich verteilt sind."

    In diesem Lichte erscheint eine Kanzlerwahl, ob nun direkt oder wie gehabt, als zweitrangig. Das erwähnte Buch ist übrigens sehr lesenswert.

  • Vermutlich bräuchte es gar keine so grundlegenden Veränderungen am System wie eine Kanzlerdirektwahl um das Problem, dass zu viele, zu weitreichenden Entscheidungen effektiv in und von Parteigremien ohne demokratisch legitimiertes Mandat gefällt werden zu beheben. Allein schon mit der Aufhebung des Fraktionszwangs wäre viel gewonnen um Kompetenzen aus den Parteien zurück zu den Abgeordneten zu holen und damit zumindest etwas dazu beizutragen, dass es bei der Bundestagswahl wieder mehr um den Bundestag und nicht nur ums Kanzleramt ginge.



    Das Problem einer Kanzlerdirektwahl wäre nicht so sehr der Populismus, den es bei der Parlamentswahl genauso gibt, sondern die - zumindest gefühlte - Verschiebung von einer parlamentarischen hin zu einer präsidentiellen Demokratie. Eine weitere Stärkung von gebündelter Macht und Exekutivbefugnissen wäre aber mE ein Schritt in die falsche Richtung und würde nur jenen zu pass kommen die eh schon irrigerweise von Diktatur gröhlen. Vielmehr bräuchte es eine klarere Nachverfolgbarkeit von Repräsentation und Legitimation, also eine Stärkung von Parlament, Partizipation und ggf. auch direktdemokratischen Elementen bei gleichzeitiger Beschränkung von Parteien, Lobbyismus und Exekutive.

  • Ohne eine wesentliche Erweiterung der Machtbefugnisse, wäre eine Kanzler-Direktwahl die Wahl eines Grüßaugusts. So eine Erweiterung wäre aber eine Schwächung der Parteien und somit auch des Parlaments. Hinauslaufen würde es darauf, dass Parteien polarisierende, populisische Leute ins Rennen schicken würden. Am Ende Ende gewinnt der, der seine Person im Wahlkampf am besten verkauft. Wie sowas in der Endkonsequenz aussieht, kann grad bestens in den Staaten beobachten.

    Und zur Corona Theorie. Wären im April Wahlen gewesen, hätte demnach -und angesichts der damals erfolgreichen bzw. erfolgreich verkauften Pandemiepolitik- die Mehrheit im Lande wohl einem Markus Söder zum Kanzler gemacht. Herzlichen Glückwunsch!

    • 9G
      91751 (Profil gelöscht)
      @Deep South:

      Oder bei der letzten Wahl den Lindner. Wie wäre es stattdessen, wenn man einzelne Positionen der Parteien wählen könnte? Das würde den Wahlschein kombinierter machen, aber auch die Aussagekraft der Wahl stärken.