Ägyptische Perspektiven auf Berlin: Die Stadt, die Liebe atmet und nach Gras riecht
Ein Gastaufenthalt wirft für unsere Autorin viele Fragen auf. Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit, wäre das auch in Kairo möglich?
N eulich schlenderte ich durch die Straßen Berlins. Draußen war es kalt. Doch Kleinigkeiten, die ich beobachtete, wärmten mich: das Lächeln der Liebenden, ihre endlosen Küsse, die Musik der Straßenmusiker und das Hanfaroma, das sich mit der Berliner Luft vermischte. Auf einer Wand fiel mir ein Graffito ins Auge. „Freiheit beginnt mit einer Frage!“ stand dort geschrieben.
Der Spruch löste etwas in mir aus; für einen Moment erinnerte ich mich an die Straßen Kairos, wo Freiheit nur als ein Luxus für mit Fragen beladenen Seelen gilt. In dieser Stadt werde ich mit endlosen Fragen konfrontiert. In etwa, wie ihre Bewohner:innen so viel Freiheit genießen können. Und ob es möglich ist, dass wir, die woandersher kommen, diese Freiheit mit zurück in unsere Straßen nehmen? Würde meine Gesellschaft akzeptieren, dass mein Mann und ich uns in der Öffentlichkeit, wie auf dem Tahrirplatz in Kairo, so lange küssen wie die Pärchen auf den Straßen Berlins? Oder müssen wir akzeptieren, dass jede Stadt ihre eigenen, unveränderlichen Regeln hat?
An jeder Ecke Berlins sieht man Paare, die sich ungezwungen küssen. Ich denke an meine Heimat und frage mich, warum dort öffentlich gezeigte Liebe als Skandal gilt. Warum müssen wir unsere Liebe heimlich zeigen, als ob wir ein Verbrechen begehen? Genau diese Frage stellte sich auch die syrische Autorin Ghada Al-Samman in ihrem Buch Capturing Freedom’s Cry.
Diese Frage kreist in meinem Kopf, seit ich in Berlin angekommen bin. Hier zeigt jeder seine Liebe so selbstverständlich wie das Atmen. Im Nahen Osten, wo ich herkomme, wird Liebe hingegen als Schande betrachtet, die verborgen werden muss. In meiner Heimat wird die Liebe gejagt und im Namen von Sitten und Traditionen verurteilt. Liebe auszudrücken wird zu etwas, was dem Schmuggeln von Gütern über Grenzen gleichkommt. Grausam, oder?
Traditionen bestimmen das Leben
Vor nicht allzu langer Zeit ging in Ägypten folgende Geschichte in den sozialen Medien viral: Ein Paparazzo fotografierte ein Paar, das sich öffentlich küsste. Die Frau trug ein Kopftuch. Das Foto wurde mit der Überschrift gepostet: „Schaut euch diese verschleierte Frau an, die bei hellem Tageslicht Ehebruch begeht.“ Das Bild verbreitete sich schnell. Die Kommentare darunter waren zustimmend, es folgten noch härtere Bemerkungen, die sich über die Männer in der Familie der Frau lustig machten, weil sie „so etwas“ zuließen. Die sozialen Medien wurden zu einem offenen Gerichtssaal.
Die verschleierte Frau hatte das Glück aus Kairo zu kommen, wo die sozialen Traditionen weniger streng und blutig sind als auf dem Land. Sie wurde „nur“ von ihrer Familie geschlagen, durfte nicht mehr zur Universität gehen und musste zu Hause bleiben. Wäre sie vom Land gewesen, wäre das Ganze tragischer geendet. Für die Männer der Familie ist ein Kuss eine „Tat“, die nur durch den Tod gesühnt werden kann. Dieser Vorfall verdeutlicht die große Kluft zwischen der Hauptstadt und dem Land in Ägypten.
Er zeigt, wie die Traditionen dort das Leben der Menschen bestimmen, selbst in ihren intimsten Momenten – im Gegensatz zu den Paaren hier, die sich vor mir am Berliner Flughafen zur Begrüßung oder zum Abschied küssen.
Ich beobachtete diese warmen Szenen so lange, dass viel zu spät zu meiner Willkommensfeier komme. Beim Empfangsessen empfahl mir eine Kollegin, mir das 49-Euro-Monatsticket zu besorgen, mit dem ich alle Verkehrsmittel nutzen konnte – und ich folgte ihrem Rat.
Über die Freiheit zu kiffen
Ich genoss das ermäßigte Monatsticket und wünschte mir, dass wir etwas Ähnliches in meiner Heimat hätten. Ich war fasziniert von der U-Bahn, den Straßenbahnen und Bussen. Auch die Nutzung von Fahrrädern war praktisch, und es war möglich, sie in öffentlichen Verkehrsmitteln mitzunehmen. Darüber hinaus investiert die Regierung in umweltfreundliche Infrastruktur für eine nachhaltigere Zukunft. Das beeindruckte mich und ich widmete meinen ersten Artikel für die ägyptische Zeitung, für die ich schreibe, dem Berliner Verkehrssystem.
Nur eines störte mich beim Erkunden der Stadt: der Hanfgeruch an öffentlichen Orten. Ein Mann, der neben mir an einer Haltestelle saß, hat pausenlos geraucht, was mir Schwindel bereitete. Ich wechselte den Platz und landete neben einem syrischen Wissenschaftler. Er bemerkte mein Unbehagen und erklärte mir, dass der Konsum und Anbau von Cannabis in Berlin vor Kurzem teillegalisiert wurde. Noch bevor ich mein Erstaunen ausdrücken konnte, erklärte er, dass die Regierung damit versuche, den Menschen mehr Freiheit zu geben und ihnen Raum zu bieten, um den Druck des Alltags abzubauen.
Ich beschäftigte mich intensiver mit medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Vorteilen der Legalisierung von Hanf in Berlin und ging ins Hanfmuseum. Der Museumsbesuch war informativ, brachte mich jedoch dazu, die Nebenwirkungen der Legalisierung, insbesondere in der Öffentlichkeit, infrage zu stellen. Was ist mit meiner Freiheit, diesen Geruch nicht einatmen zu müssen, frage ich mich jedes Mal, wenn ich den Geruch einatmen muss. Fühle ich mich sicher, umgeben von diesen nicht ganz nüchternen Menschen da draußen?
Eines Tages wachte ich auf und stellte fest, dass die ersten beiden Dinge, die mich an Deutschland fasziniert hatten, nicht mehr existierten: das 49-Euro-Ticket und der Museumssonntag. Die Sparmaßnahmen machten den 1. Dezember 2024 nicht nur für mich zur letzten Gelegenheit, den freien Museumstag zu genießen, sondern für alle Berliner.
Liebgewonnener Museumssonntag
An diesem Tag machte ich mich früh auf den Weg zur Museumsinsel, um lange Besucherschlangen vor allen großen Museen vorzufinden. Sie fotografierten die Gebäude und machten Selfies mit ihnen, als würden sie sich von ihnen verabschieden. Ich war sowohl beeindruckt als auch traurig über diesen Anblick.
Die wirtschaftlichen Veränderungen, die den jüngsten Kriegen folgten, hatten das Leben der Menschen bereits so hart getroffen, dass solche kostenlosen Möglichkeiten, die Museen zu besuchen, für sie viel bedeuteten. Ich verbrachte meine Wartezeit in der Schlange vor dem Alten Museum und fragte die Menschen, wie sie sich fühlten.
„Diese Initiative war ein monatliches Ritual für mich und viele andere. Ich hatte keine Zeit, diese Museen zu besuchen, als ich noch gearbeitet habe“, sagte Maria, eine ältere Berlinerin in ihren 70ern. Rosa, eine junge brasilianische Besucherin, kritisierte: „Was für eine Enttäuschung, Kultur nur denen anzubieten, die dafür bezahlen können!“
Ich schaffte es an diesem Tag nicht mehr ins Haus der Kulturen der Welt (HKW), da die Zeit nicht mehr reichte. Allerdings ging ich am folgenden Sonntag zum HKW und war traurig, es fast leer vorzufinden. Ich fragte einen der Mitarbeiter draußen, ob es letzten Sonntag auch so leer gewesen sei und er antwortete: „Um Gottes willen, nein!“ Die Sparmaßnahmen hatten das Vergnügen des Berliner Lebens so schnell schrumpfen lassen.
Eine Stadt, die Fragen stellt
Am Ende bleibt Berlin eine Stadt, die ihre eigenen Fragen aufwirft und sich gleichzeitig den Fragen ihrer Besucher stellt. Ist Freiheit hier ein Produkt eines einzigartigen kulturellen Kontexts? Oder ist es eine Entscheidung, die überall getroffen werden kann, solange wir genug Mut haben?
Berlin ist nicht nur das, was wir sehen, es ist auch das, was wir dort fühlen. Sie ist eine Stadt, die in den Parks Liebe atmet, die Beschränkungen auf den Straßen herausfordert und die Gegenwart durch ihre Museen neu gestaltet. Doch sie trifft auch substanzielle Entscheidungen, die den Willen ihrer Bewohner ignorieren. Die Stadt löst nicht nur in mir Diskussionen über das Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und dem öffentlichen Interesse aus.
Berlin ist nicht nur ein Schauplatz für Geschichten; dieser Ort ist eine Erfahrung, die mit all ihren Widersprüchen gelebt werden muss. Am Ende dieser mehrwöchigen Reise kehre ich nach Kairo zurück und frage mich: Sind wir in unserer eigenen Stadt bereit, unsere Fragen mit demselben Mut zu stellen?
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