Ägyptische Muslimbrüder unter Druck: Die Armee schützt ihre Interessen

Die ägyptischen Militärs haben nichts gegen die Muslimbrüder. Sie mischen sich jetzt nur ein, weil sie befürchten, dass das Land auseinanderbricht.

Die Armee wird plötzlich als Retter vor der Herrschaft durch die Muslimbrüder begrüßt. Bild: ap

KAIRO taz | In Ägypten gibt es dieser Tage viel mehr Fragen als wirkliche Antworten. Wie lange ist der Muslimbruder Muhammad Mursi noch Präsident, nachdem seine in Massen auf der Straße demonstrierenden Gegner nun auch vom Militär Hilfe bekommen?

Und was kann das Militär tatsächlich unternehmen, wenn Mursi nicht nachgibt? Und was passierte mit den Muslimbrüdern, sollten sie mit einer Mischung aus Massenprotesten und einem Militärputsch von der Macht zwangsweise entfernt werden?

Es überkommt einen ein mulmiges Gefühl, wenn man dieser Tage auf dem Tahrir steht und die Menschen den Militärhubschraubern zujubeln, die mit ägyptischen Fahnen ihre Kreise über den Platz drehen.

Da macht die gleiche Militärführung einen auf patriotischen Freund des Volkes, die nach dem Sturz Mubaraks massenhaft Tahrir-Aktivisten verhaften und vor Militärgerichte stellen ließ und die sogenannte Jungfräulichkeitstests von inhaftierten Demonstrantinnen befohlen hatte.

Fragwürdige Retter

Selbst die zuvor so verhasste Polizei, die für den Tod von über tausend Demonstranten verantwortlich ist, und das Innenministerium, das sich bisher allen Reformversuchen entzogen hat, werden als Retter in der Not vor Mursi und seinen Muslimbrüder rehabilitiert.

Übergriffe: Sexuelle Übergriffe auf Frauen überschatten die Proteste. Am Sonntag sei auf dem Tahrirplatz mit 46 Vorfällen die bislang höchste Zahl registriert worden, teilte eine Bürgerwehr mit. Belästigt wurde auch eine Holländerin.

Hilfe: Viele Fälle seien so schwerwiegend, dass die Frauen psychologische und medizinische Hilfe benötigten, sagte ein Mitglied der Hilfsgruppe. Allein am Montag seien 17 Übergriffe registriert worden, 8 Mal seien Freiwillige zum Schutz der Frauen eingeschritten. (ap)

„Das ist verständlich, aber nicht verzeihlich“, sagt Khaled Fahmy, ägyptischer Historiker und Politkommentator. „Das zeigt, dass die katastrophale Politik der Muslimbrüder die Menschen selbst wieder in die Arme der alten Sicherheitskräfte getrieben hat“, sagt er.

Die Armee, glaubt Fahmy, habe keinen lange ausgeheckten Plan, sondern reagiere nur auf den überraschenden Mobilisierungserfolg der Tamarud-Bewegung. Dabei hat sie durchaus ihre eigenen Interessen, schon allein, weil sie mindestens ein Viertel der Wirtschaft kontrolliert.

Finanzielle Autonomie der Armee

„Die Armee hat kein Problem mit den Muslimbrüdern, sie hat Angst, dass die Gesellschaft auseinanderbricht und dass dann auch ihren Interessen auf dem Spiel stehen“, erklärt Fahmy.

Tatsächlich hatten die Muslimbrüder in der von ihnen durchgepeitschten Verfassung dem Militär seine finanzielle Autonomie gewährt. Der wichtigste Punkt für die Generäle. Nun sehen sie in der sofortigen Beendigung der politischen Krise die beste Garantie, ihre Interessen abzusichern – selbst wenn noch unklar ist, wie sie das Ganze tatsächlich zu einem Schluss bringen, ohne den gewählten Präsidenten für seine Anhängerschaft zum Märtyrer zu machen, wenn er aus seinem Amt getragen würde.

„Die Armee sucht nun dringend nach einer Formel, wie sie in einem demokratischen Übergangsprozess ihre Interessen schützen kann“, fasst Fahmy das Problem des Militärs zusammen.

„Sie haben verloren“

Noch entscheidender wird sein, wie sich die Muslimbrüder verhalten werden, wenn sie mit dem Rücken zu Wand stehen. „Sie haben verloren, wenn sie kapitulieren, und sie werden sogar noch mehr verlieren, wenn sie sich mit Gewalt wehren und ihre Anhänger auf der Straße mobilisieren. Ein Teil der Hardliner würde es gerne genau darauf anlegen“, glaubt Fahmy.

Erste Hinweise gibt es auf Letzteres: wenn die Hardliner, wie schon geschehen, zur „Intifada der Moscheen“ aufrufen und davon reden, dass „die Legitimität des gewählten Präsidenten ihre rote Linie ist, die sie über ihre Leichen verteidigen werden“.

Trotzdem glaubt Fahmy nicht an ein algerisches Szenario. Das nordafrikanische Land war in einen Bürgerkrieg abgeglitten, als den Islamisten der Wahlsieg verwehrt worden war. Ägypten hatte eine Revolution, Wahlen und die Chance, die Muslimbrüder auszuprobieren, die für viele Ägypter an dieser Aufgabe gescheitert sind. Außerdem haben Ägyptens Islamisten bereits in den 1990er Jahren das Land mit Gewalt überzogen und aus ihren Fehlern gelernt. Sie haben sich für den damaligen Terror entschuldigt.

Richtungsstreit bei den Muslimbrüder

Fahmy erwartet eher, dass es zu einem Coup innerhalb der Muslimbrüder kommen könnte, der von der Jugend der Organisation angeführt werden könnte. „Die Muslimbrüder befinden sich in einer existenziellen Krise“, erläutert Fahmy. Normalerweise halten die Muslimbrüder in so einer Krise zusammen, das haben sie in all den Jahrzehnten ihrer Verfolgung gelernt.

Aber jetzt können sie nicht so weiter funktionieren wie unter der Diktatur. Gerade die Muslimbruder-Jugend weiß, dass die Idee der Hardliner, zu versuchen alles zu kontrollieren und mit den eigenen Leuten zu bestücken, in einem so diversifizierten Land wie Ägypten nicht funktioniert.

Auszuschließen ist aber nicht, dass ein Teil der Hardliner wieder individuell bei Gewalt und Terror Zuflucht sucht, mit dem Argument, man habe ihnen das demokratische Experiment gestohlen.

Das Erbe der jetzigen Tage in Ägypten wird uns noch lange beschäftigen. Vor allem dann, wenn es das Militär und die politischen Nachfolger von Mursis Präsidentschaft nicht schaffen, den politischen Islam auch in einer Nach-Mursi-Zeit demokratisch einzubinden.

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