: Achtung, Baustelle!
■ Die Fundamente des Internets werden neu gelegt, die Computer müssen eine neue Sprache lernen. Sie heißt "IPv6"
Das Internet steht vor seiner bisher größten Reform. Ein neues Protokoll, IPv6, soll verhindern, daß die Nummern ausgehen und Surfer beim Einwählen die Meldung „connection impossible“ erhalten. Weitere Neuerungen sind Verfahren zur Online-Abrechnung, zur besseren Überprüfung (Authentifikation) des Absenders oder zur direkten Datenverschlüsselung. Trotz ihrer Tragweite soll die Umstellung so ablaufen, daß es nicht zum wochenlangen Chaos und Stillstand kommt.
Das Kürzel IPv6 bedeutet „InternetProtokoll Version 6“. Das Internetprotokoll, abgekürzt IP, ist das eigentliche Geheimnis des Wundermediums Internet. Es ist die gemeinsame Sprache, die alle angeschlossenen Computer sprechen, ob nun im Mutterland USA, ob in Europa, in Rußland oder in Hongkong. Wenn eine Surferin einen URL (den „Uniform Ressource Locator“) in ihren Browser tippt oder auf einen Hyperlink klickt, dann funkt das Programm dem Computer am anderen Ende per IP: „Hey du, schick mir mal die Seite, die meine Benutzerin haben will. Und am besten auch alle Bilder!“ Das wäre ein Problem, wenn der eine Computer spanisch und der andere türkisch redete. Aber es sprechen eben beide IP.
Nur dadurch ist ein globales Netz möglich geworden, das obendrein auch noch billiger zu nutzen ist als das Telefon. Denn im Internet ist der weltweite Zugriff im Pauschalpreis für den Zugang enthalten. Beim Telefonsystem, das jeweils national organisiert ist, vervielfachen sich die Gebühren, sobald ein Benutzer die Landesgrenze verläßt.
Vier Millarden Adressen reichen nicht mehr aus
Doch genau an dieser gemeinsamen Sprache wird gerüttelt. Der Adreßraum werde zu knapp, sagen die Experten. Sie meinen, daß ihnen die Zahlen ausgehen, die hinter der URL stecken. Im Internetprotokoll der Version 4 sind maximal vier Milliarden verschiedene Rechnernamen vorgesehen. Jedoch nicht alle können benutzt werden. Bereits der Anschluß aller Menschen der USA und der EG könnte zu Engpässen führen.
Darum werden die Internet- adressen erweitert. Bisher hatten die Nummerncodes eine Länge von 32 bit, das ist vergleichbar einer Telefonnummer inklusive Vorwahl innerhalb Deutschlands. Die neuen Adressen sind viermal länger, also 128 bit. Damit potenziert sich die Zahl möglicher Nummern: Man könnte jetzt vier Milliarden Unter-Internets bauen mit jeweils vier Milliarden Benutzern und hätte trotzdem erst die ersten 64 bit der 128 bit verbraucht. Jedes weitere bit verdoppelt abermals die Zahl der möglichen Nummern. Weil sich diese langen Bitfolgen niemand merken kann, wird wie bisher das DNS- System („Domain Name Server“) angewandt: Rechner speichern die Nummer für den Bereich des Netzes und den Computer, auf dem das gesuchte Dokument liegt, unter einem plausiblen Namen, etwa „www.taz.de“. Schon bald werden zwei solcher Namen gelten, je einer für die alte und die neue Adresse.
Wenn schon neue Adressen und ein neues Protokoll hermüssen, können nebenbei auch andere Wünsche erfüllt werden. Für manche werden die weiteren Änderungen des Protokolls sogar die Hauptsache sein. So ist geplant, daß man sich eine Mindestgeschwindigkeit für Übertragungen garantieren lassen kann. Die Folge ist hoffentlich: weniger weltweites Warten als bisher.
Maßgeschneidert für die Laptop-Generation
Allerdings könnte ein Zweiklassennetz entstehen: Wer das Geld hat, reserviert seinen Surfplatz, alle anderen stehen in der Schlange. Damit wäre eines der bisher geltenden Prinzipien des Internets verletzt: Das Internetprotokoll ist zustandslos, das heißt: Alle Benutzer sind gleich, auch im Datenstau hat jeder dieselbe Chance, unabhängig davon, ob er bereits mehrere Megabyte übertragen oder sich soeben erst eingewählt hat. Die Reservierung verlangt aber die Speicherung von Zustandsinformationen: Reserviert von wem? Wie lange? Wie schnell?
Vor allem Manager werden das zu schätzen wissen. IPv6 hilft ihnen auch auf der Geschäftsreise weit über das Maß hinaus, das bisher Onlinedienste wie AOL, CompuServe oder Telekom mit ihren Einwählknoten in größeren Städten anbieten. In Zukunft kann ein Unternehmer seinen Computer vom Firmennetzwerk abklemmen, mit auf eine Reise nehmen und in einer anderen Stadt an einem anderen Teil des Internets anhängen, wo er unter derselben Adresse erreichbar ist.
Dazu werden jedem Rechner zwei Adressen gegeben: eine feste Heimadresse und eine flexible Mobiladresse. Hinter der Heimadresse steht ein Vermittlungsrechner des Internets, ein sogenannter Router. Er speichert die Mobiladresse, wenn der Laptop unter der Heimadresse nicht erreichbar ist. Was dann genau passiert, hängt von der Konfiguration des Routers ab. Entweder werden alle Daten an die Mobiladresse nachgeschickt, oder die Mobiladresse wird allen Rechnern mitgeteilt, die nach einer Verbindung zum Laptop fragen.
Ein großes Kapitel im neuen Internet sind Authentifikation und Sicherheit. IPv6 wird bessere Verfahren anbieten, um zu überprüfen, ob der Absender eines Datenpakets wirklich der ist, als der sie oder er sich ausgibt. Das wirkt vor allem gegen Hacker, denn ein beliebter Trick in letzter Zeit war es, Pakete mit falschem Absender zu schicken und dadurch einem Rechner eine Verbindung vorzugaukeln. Es wird außerdem möglich sein, festzustellen, ob ein Datenpaket unterwegs verändert worden ist.
Groschengrabscher und Schnüffler willkommen?
Eng verbunden damit ist die Möglichkeit, Abrechnungsinformation zu übertragen. In Zukunft kann es also heißen: Antwort nur gegen Geld. Bei hochwertigen Datenbanken sicherlich eine gute Sache – sie müssen bezahlt werden, um die Datenpflege zu finanzieren. Es besteht aber die Gefahr, daß das Groschengrabschen im Internet so beliebt wird, wie es bereits heute im Btx ist: „Bahnauskunft?“ – „Kein Problem, kostet aber 30 Pfennig.“ – „Eine zweite Verbindung?“ – „Sicher, aber bitte noch einmal 30 Pfennig!“
Die Authentifikation der Daten bedeutet jedoch nur halbe Sicherheit, erst die Verschlüsselung schützt vor Schnüffelei. IPv6 könnte auch Verschlüsselungsverfahren enthalten, doch plötzlich kommen nationale Interessen ins Spiel. Politiker aller Staaten winden sich. In Frankreich ist die Datenverschlüsselung illegal. Dabei sprechen gute Gründe dafür: Nicht nur die Polizei würde gern mithören, um illegale Aktivitäten aufzudecken. Bei Firmen kann der Mithörer ein Konkurrent sein, der Industriespionage betreibt.
Die Umstellung hat bereits begonnen
In Deutschland sind die Postleitzahlen von einem Tag auf den anderen umgestellt worden. Plötzlich mußten alle Briefe mit der neuen Nummer abgeschickt werden, wollte man verhindern, von der Post mit der sprichwörtlichen „Verzögerung bei der Briefzustellung“ bestraft zu werden. Die Frage stellt sich, ob das bei der Internet-Umstellung genauso sein wird: Wann werden die alten Pakete nur noch tröpfchenweise durchs Netz gehen, weil sie den neuen Platz machen müssen?
Nun, die Umstellung hat schon begonnen. IBM und SUN bauen bereits Computer, die IPv6 verstehen. Auch einige der Langstreckenverbindungen des Internets benutzen schon das neue Protokoll. Die heiße Phase des Umstiegs wird aber erst in zwei bis drei Jahren erwartet. Ein Trick sorgt für den sanften Wechsel, er heißt „Päckchen packen“: Sowohl IPv4 als auch IPv6 stecken alle Informationen in sogenannte Datenpakete Was macht nun ein Sechser-Paket, das an einer Leitung ankommt, die nur den Vierer-Modus kennt? Ganz einfach, der Router, der zwischen den beiden Leitungen hin- und hervermittelt, macht ein neues Vierer-Paket auf, steckt das Sechser-Paket rein und schnürt den Vierer zu. Dann schickt er den Vierer weiter, der den Sechser huckepack trägt. Das geht so lange, bis der Vierer auf einen Router trifft, der wieder beides kann. Dort wird das Vierer- Paket aufgerissen, der Verpackungsmüll entsorgt, und der Sechser darf wieder aus eigener Kraft weiter durch die Datennetze reisen.
Bei solchen Kunststücken kann natürlich jede Menge schieflaufen. Daß tatsächlich alles so reibungslos klappen wird, wie die Fachleute sich das vorstellen, darf bezweifelt werden. Und es wird der Tag kommen, an dem die IPv4- Verbindungen abgerissen und alte IPv4-Pakete mit kompletter Nichtzustellung bestraft werden.
Die alten Geräte für den Internet-Zugriff, Modem oder ISDN- Karte, werden allerdings weiter funktionieren. Lediglich die Software ändert sich, der sogenannte Protokoll-Stack. Es wird also notwendig sein, rechtzeitig die neue Version von Internet Explorer und Konsorten vom Netz herunterzuladen, bevor die Lichter ausgehen und IPv4 abgeschaltet wird. Kai Petzke
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