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Abschiedsvorlesung Joseph VoglDas Flirren der Literatur in Vorkriegszeiten

Joseph Vogl hatte sich am Anfang seiner akademischen Laufbahn dem „Zaudern“ gewidmet. Nun rundet sich das mit Überlegungen zur Schwerelosigkeit.

Eine Art „In-die-Höhe-Sinkens“ – oder doch bloß ein Fallen? Foto: Sven Doering/visum creative

Joseph Vogl ist nach Friedrich Kittler wohl der letzte Literaturwissenschaftler mit Kultstatus. Nach seiner Abschiedsvorlesung im Sommer an der Humboldt-Universität gab es minutenlange Ovationen. Der Protagonist sah sich angesichts dessen genötigt festzustellen, dass es in der Wissenschaft im Gegensatz zu einem Popkonzert keine Zugaben gebe.

Damit bewegte er sich weiter in der Region, die die Vorlesung bestimmt hatte: dem Schweben zwischen dem Leichten und dem Schweren. Nun liegt sie in Buchform vor, und schon auf den ersten Seiten ist zu spüren, wie lustvoll der Autor das schwierige, aber gleichwohl fruchtbare Gelände zwischen theoretischem Diskurs und literarischer Entgrenzung betritt.

Vogls Schlüsselroman ist „Der Mann ohne Eigenschaften“. Robert Musil zeigte sich getrieben von der Frage, welche Funktion der Literatur in seinem Zeitalter überhaupt noch blieb. Der Anspruch, das Unerklärliche erklärbar zu machen, war im Lauf der Jahrzehnte von der Literatur auf die Wissenschaft übergegangen.

Psychologie als Konkurrenz zur Literatur

Spätestens mit der Psychoanalyse, von der Relativitätstheorie oder der Quantenphysik ganz abgesehen, hatte die Literatur eine Konkurrenz bekommen, die ihre Existenz bedrohte. Die grundsätzliche Frage nach Erkenntnis, das Vordringen in die dunklen Räume wurde nicht mehr nur ihr überlassen.

Das Buch

Joseph Vogl: „Meteor. Versuch über das Schwebende“. Verlag C.H. Beck, München 2025. 144 Seiten, 20 Euro

Vogl zeigt sehr facettenreich, wie Musil die Fragestellungen der zeitgenössischen Theorie in seinen Text überführt und die Literatur in eine Haltung des Schwebens versetzt. Sie entzieht sich allen Zuweisungen von außen und schafft sich ein eigenes Bezugssystem, das die Atmosphäre der Zeit und ihrer Gefährdungen zum Ausdruck bringt.

Das charakteristische Changieren im „Mann ohne Eigenschaften“ liegt auch daran, dass die zeitlichen Ebenen ins Flirren geraten. Der Roman handelt vom Vorabend des Ersten Weltkriegs, von der Ahnung kommender Katastrophen im Jahr 1914, aber während des Schreibprozesses in den dreißiger Jahren schob sich für den Autor seine aktuelle Gegenwart in den Text, das Krisengefühl einer neuen Vorkriegszeit. Und was Vogls Herangehensweise brisant macht, ist die Tatsache, dass in seinem Schreiben der Jahre 2024/2025 Zeichen einer neuen Vorkriegszeit mitschwingen.

Musils „Mann ohne Eigenschaften“

Vogl hebt im „Mann ohne Eigenschaften“ die Szene hervor, in der das Geschwisterpaar Ulrich und Agathe eine Vereinigung vollzieht, die in einer Sphäre jenseits aller Eindeutigkeiten angesiedelt ist. Ulrich, inspiriert davon, wie sich die Schwester gerade ankleidet, umarmt sie und wirft sie in die Höhe. Es sei ein „leiblicher Vorgang“, heißt es bei Musil, der jedoch alle „Gebärden des Fleisches“ meide – eine Art „In-die-Höhe-Sinken“, fügt Vogl hinzu und sieht hier ein Urbild des Schwebens, das Erreichen eines schwerelosen Punkts.

Er findet in den Musilschen Entgrenzungsbewegungen, der Freisetzung alles Imponderabilen und Unwägbaren auch eine erkenntnistheoretische Antwort auf die Gewissheiten begrifflicher Setzungen.

Am Beginn von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ist in exakten naturwissenschaftlichen Benennungen vom Wetter die Rede, von Hoch- und Tiefdruckgebieten, und damit gelangt Vogl zur Meteorologie: Bereits Aristoteles untersuchte mit ihr das zwischen Himmel und Erde Schwebende und nahm atmosphärische wie astrale Ereignisse in den Blick.

Es ist ein dichtes Netz von Bezügen und Motiven, an dem Vogl fortwährend spinnt, und man merkt in erster Linie eine Lust am Auffinden, am Beschreiben und Verknüpfen, die zwischen den Zeilen immer auch die Frage nach der Erklärbarkeit der Welt und nach Erkenntnis stellt, aber spannungssteigernd offenhält.

Die „Wolkenlehre“ Goethes

Goethe liefert als Naturwissenschaftler mit seiner „Wolkenlehre“ eine erste Conclusio. Die Welt der Wolken liegt für ihn jenseits des Klaren und Deutlichen, sie erscheint trüb und verworren und steht für das „Übergängliche“ – genauso wie sie schon bei Galileo Galilei die Grenze der Wissenschaft markierte. Wer Wolken sieht, so Vogl, sehe zugleich „ein Unsichtbares und Unspürbares“ mit.

Hier würde sich nun anbieten, einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Wirkmächtigkeit von Literatur herzustellen, das Schwebende bei Musil ästhetisch auszudifferenzieren. Aber der Autor setzt erstmal seine motivischen Streifzüge fort und gelangt von Goethe fast unmittelbar zu Kafka. Es fällt dabei auf, dass er die Romantik, die sich bei seinem freischwebenden Thema eigentlich wie von selbst aufdrängt, auslässt. Hatte er die Befürchtung, sich bei seinen Höhenflügen hier zu sehr die Flügel zu versengen?

Immerhin birgt die Romantik Tendenzen, vermeintlich Schwereloses doch auch mit gewissen ideologischen Ballaststoffen anzureichern, hier lauern nicht ins Bild passende politische Fallstricke. Vogl aber vernetzt Goethe unter anderem mit Descartes, Kant und Fichte und landet in der Literatur dann eben gleich bei einer fulminanten Exegese der Ästhetik bei Kafka, diesem „Wegweiser für das Verirren“. Spätestens dann stellt sich die Frage: Wie könnte man all dies zusammenführen?

Vogl setzt zum Schluss tatsächlich zu einer theoretischen Fundierung seines Unternehmens an. Dabei geschieht etwas Sonderbares. Der Ton dieses letzten Kapitels ist spürbar anders.

Analogie zwischen Erkenntnisprozessen

Dem Autor geht es jetzt darum, all das Oszillierende und Fluktuierende, das bisher beschworen wurde, auf eine neue Ebene zu heben, und zwar in einem Duktus, der auf Begriffe und Formeln setzt und so versucht, die Analogien zwischen wissenschaftlichen und literarischen Erkenntnisprozessen abstrakt zu bestimmen. Den Fluchtpunkt bildet interessanterweise der nach 1900 einflussreiche Mathematiker und Semiotiker Charles Sanders Peirce, bei dem das Regellose eine prozessuale Form erhält und der mit Denkmodellen wie der „Abduktion“ operiert.

Mit diesem Rüstzeug unterzieht sich Vogl der spürbaren Anstrengung, das „Ereignishafte“, das er vorher suggestiv entfaltet hat, diskursiv zu beglaubigen. Anfangs hatte er Musils Großroman schlüssig als ein Vorhaben definiert, Einspruch gegen den Verlauf der Geschichte zu erheben, die Literatur also als eine „Gleichgewichtsstörung“ des „Wirklichkeitssinns“.

Man bekommt aber fast den Eindruck, dass sich der Autor darum bemüht, am Schluss ein neues Gleichgewicht herzustellen, das heißt: die Literatur auszutarieren. Das berühmte Kapitel bei Musil heißt „Die Ungetrennten und Nichtvereinten“ – das wäre vielleicht auch eine Vorgabe für das Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft. Doch Vogl, so sehr er eine „Poetik der Wissenschaft“ anvisiert, nimmt sie so nicht an.

Abschiedsvorlesung „Versuch über das Schwebende“

Derlei Überlegungen bleiben allerdings angesichts der Dimensionen, die das Buch eröffnet, bloße Aperçus. Joseph Vogl hat mit seinem Essay augenzwinkernd auch einen eigenen Bildungsroman reflektiert. Seine Antrittsvorlesung hieß „Über das Zaudern“, seine Abschiedsvorlesung „Versuch über das Schwebende“, und damit scheint sich etwas zu runden.

Mit dem Schweben hat das Zaudern an Souveränität gewonnen. Das größte Verdienst des Buches besteht aber in der Erinnerung daran, welch systemsprengende Möglichkeiten in der Literatur liegen, in einem unwillkürlichen Aushebeln aller Gewissheiten.

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