piwik no script img

Abschiedsfilm von Alain ResnaisAuf Eurydikes und Orpheus’ Spur

Alain Resnais ist der wagemutigste unter den französischen Autorenfilmern. Sein neuer Film, „Ihr werdet euch noch wundern“, erkundet die Aporien der Sprache der Liebe.

Mathieu Amalric als M. Henri. Bild: dpa

Die Spielregeln werden anfangs ausführlich erklärt: Da gibt es zum einen eine Gruppe von Schauspielern, die sich nach einer eigenwilligen „Anrufung per Telefon“ zum Wohnhaus eines angeblich soeben verstorbenen gemeinsamen Freunds, des Theaterregisseurs Antoine D’Anthac, aufmachen. Dort angekommen, werden sie von der Vorführung eines Videofilms überrascht, der die Proben zu einer freien szenischen Bearbeitung der Sage um Orpheus & Eurydike zeigt.

Und zwar, das ist der erste Clou, ist das dasselbe Theaterstück, das auch die versammelten Schauspieler einst – beziehungsweise: immer wieder, in ständig neuen Konstellationen – für Antoine d’Anthac aufgeführt hatten und das deshalb, bei der Wiederbegegnung, ein konstantes Déjà-vu aufruft, welches wiederum einen Übersprung der abgefilmten Bühnendialoge in den Zuschauerraum triggert:

Dialogzeilen werden nachgesprochen, mitgesprochen, vorweggenommen, die alten Rollen werden wieder aufgerufen und – bei vollem Bewusstsein des eigenen, fortgeschrittenen Alters und deshalb nur umso eindringlicher: es könnte für jeden Einzelnen das letzte Mal sein – noch einmal durchgearbeitet.

Der zweite Clou ist, dass dieselben Schauspieler – unter anderem Sabine Azéma, Pierre Arditi, Lambert Wilson, Mathieu Amalric und Jean-Noël Brouté, alle zunächst unter ihren bürgerlichen Namen agierend – auch mit dem Kinoregisseur Alain Resnais schon zahlreiche Projekte realisiert haben; vertrackte Lustspiele zumeist, basierend auf Boulevardkomödien, deren untergründige Widerhaken der Altmeister des französischen Autorenkinos mit spielerischer Leichtigkeit und einer unbändigen Lust an der Artifizialität an die Oberfläche befördert hatte.

Die Verstricktheit des Begehrens

Ein besonders naheliegender Anschluss ist „Mélo“ aus dem Jahr 1986, einer der schönsten Filme Resnais’, ein streng kadriertes und allerdings vergleichsweise düster gestimmtes Drama, in dem Arditi und Azéma – hier nun die zentralen Orpheus/Eurydike-Wiedergänger – schon einmal vor Theaterkulissen an der Unmöglichkeit der Liebe verzweifelt waren.

Allesamt sind das Filme, die man zwar nicht unbedingt als Variationen der Orpheus-Fabel lesen muss, die aber ebenfalls immer wieder, in ständig neuen Konstellationen die Aporien der Sprachen der Liebe und die vielfältigen Verstricktheiten des Begehrens erkundet hatten.

Ein besonderer Reiz vor allem jener Filme, die Resnais seit den neunziger Jahren drehte, bestand darin, dass sich in ihnen modernistische Reflexivität nie in einen Widerspruch zu konventionellen Unterhaltungswerten stellte; „Das Leben ist ein Chanson“ (1997) funktionierte wunderbar als Musical, „Herzen“ (2006) problemlos als Kammerspielkomödie, insgesamt formierten sich die an den Kinokassen, zumindest im Vergleich zu den Werken von Resnais’ Autorenfilmerkollegen, ungemein erfolgreichen Filme zu einer Art parallelen Populärkino, eingebettet in ein eigenes Starsystem, aufgefächert über verschiedene Genres.

Der neue Film funktioniert, den kunstvoll nach allen Regeln des Schauspielhandwerks ausgestellten melodramatischen Affekten zum Trotz, dann doch wieder ganz anders: Die Reflexion nimmt Überhand, das Populäre ist nur noch als Technik präsent.

Es soll sein Abschiedsfilm sein

Mit „Ihr werdet euch noch wundern“, den er zunächst als seinen letzten, seinen Abschiedsfilm angelegt hatte (inzwischen dreht er doch schon wieder einen neuen), begibt sich Resnais, auch in seinem 92. Lebensjahr noch immer der wagemutigste Regisseur des französischen Kinos, tief in die Echokammer des eigenen Werks.

Nicht auf eine sentimentale Rückschau hat er es dabei abgesehen, sondern auf eine nach innen gefaltete Entdeckungsreise: Jedes Wort ist schon mindestens einmal gesprochen, jede Träne schon mindestens einmal vergossen worden, und doch ist einerseits jede Träne wieder genauso echt oder unecht, wie es die erste war; und andererseits kann keiner der Beteiligten wissen, worauf er sich einlässt, wenn er das Anwesen des Regisseurs betritt und sich damit der kreativen Willkür eines (un-) toten auktorialen Bewusstseins aussetzt.

Die Spielregeln werden, das merkt man bald, anfangs nur deshalb so ausführlich erklärt, damit sie anschließend mit umso größerer Freude über den Haufen geworfen werden können. Oder, vielleicht genauer: Die Regeln verästeln und verkomplizieren sich so schnell so vehement, dass sie sich nie zu dem einen Spiel verfestigen können.

Das beginnt schon mit der medialen Anordnung: Je länger die Scharaden andauern, desto unklarer wird, ob da jetzt das Kino das Theater oder das Theater das Kino aufführt. Und die Gattungsgrenzen verflüssigen sich noch gründlicher: Die Vorführsituation, in der Resnais seine Schauspieler platziert, ist eigentlich weder die kommunal-öffentliche des Theaters noch die anonym-öffentliche des Kinos.

Wie Schauplätze von Computerspielen

Sowohl die Sofas, auf denen es sich die Akteure bequem machen, als auch die „menschlichen Maße“ derer, die ihnen auf ungefähr gleicher Höhe entgegentreten, gehören eher zum intimen Dispositiv des Fernsehens.

Die abstrahierten, unübersehbar digital überarbeiteten und mithilfe von zaubertrickartigen Spezialeffekten – verschwindende Menschen, aus dem Nichts erscheinende Türen – zusätzlich derealisierten Räume erinnern wiederum an die doppelt, technisch und narrativ, virtualisierten Schauplätze von Computerspielen. In solchen reinen Möglichkeitsräumen ist das seit bald sieben Jahrzehnten nicht einhegbare Kino Resnais’ ganz bei sich selbst.

„Ihr werdet euch noch wundern“. Regie: Alain Resnais. Mit Sabine Azéma, Pierre Arditi, Michel Piccoli u. a. Frankreich/Deutschland 2012, 115 Min. Kinostart Donnerstag, 6. Juni 2013.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Ein nicht leicht zugänglicher, aber absolut faszinierender Film, dem man sich bei mehrfachem Sehen immer weiter nähern kann (mehr dazu in meiner Filmkritik: http://www.leselink.de/filme/drama-filme/ihr-werdet-euch-noch-wundern.html ). Die verschiedenen Realitätsebenen, auf denen der Film spielt, führen dazu, dass man sich als Zuschauer selbst in den Film hineingezogen fühlt.