Abermals mahnt Europa Deutschland: Hilfe gegen lahme Gerichte
Der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte macht seit langem Druck auf Deutschland – weil Prozesse zu lange dauern. Jetzt sollen Bürger sich endlich wehren können.
![](https://taz.de/picture/284989/14/justisist.20110102-18.jpg)
Zum Abschied wurde Europarichterin Renate Jaeger noch einmal deutlich. "In Deutschland gibt es noch immer kein Gesetz, das Entschädigungen bei überlanger Prozessdauer festlegt", so Jaeger in ihrem Abschiedsinterview. Es gebe "Nachbesserungsbedarf", mahnte die Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), die zum Jahreswechsel ausschied. .
Jaegers Unmut ist verständlich. Immer wieder wird Deutschland in Straßburg wegen überlanger Gerichtsverfahren verurteilt. 2006 forderte der EGMR erstmals strukturelle Abhilfe von Deutschland. Geklagt hatte damals ein Mofa-Fahrer aus Stade, der nach einem Unfall 24 Jahre lang auf ein Urteil über die Höhe des Schadenersatzes warten musste.
Im September 2010 wurde der Gerichtshof noch deutlicher. In einem sogenannten Pilotverfahren wurde Deutschland eine Frist gesetzt: Binnen eines Jahres müsse endlich ein innerstaatliches Rechtsmittel eingeführt werden, mit dem Bürger eine Beschleunigung überlanger Prozesse erreichen können. Geklagt hatte diesmal der Inhaber einer Sicherheitsfirma, der erfolglos um einen Waffenschein prozessierte und elf Jahre auf ein Urteil warten musste.
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ist der Druck aus Straßburg bewusst. Im August hat die Bundesregierung deshalb einen Gesetzentwurf "über den Rechtschutz bei überlangen Gerichtsverfahren" beschlossen. Künftig soll ein Betroffener beim zuständigen Gericht zunächst eine Verzögerungsrüge erheben können, wenn er das Gefühl hat, sein Verfahren kommt nicht voran. Frühestens nach weiteren sechs Monaten kann er eine Entschädigungsklage einreichen. Bei unangemessen langen Prozesse soll es dann in der Regel 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung geben. Bei Strafverfahren wirkt die überlange Verfahrensdauer (wie bisher) strafmildernd.
Mit dieser Entschädigungslösung wird zwar ein lahmer Prozess nicht direkt beschleunigt. Allerdings, so die Hoffnung der Ministerin, soll bereits die Verzögerungsrüge als Warnschuss dienen. Über die Rüge selbst wird kein Beschluss gefasst - damit ein ohnehin überlastetes Gericht nicht noch mehr Arbeit bekommt. Die Entschädigungsklage muss dann ein anderes Gericht aus der gleichen Gerichtsbarkeit behandeln. So muss etwa das Landessozialgericht nach einem überlangen Prozess bei einem Sozialgericht entscheiden. Wann ein Verfahren als "unangemessen lang" gilt, soll nach Einzelfall entschieden werden.
Richterbund und Anwaltverein sind mit dem Gesetzentwurf zufrieden, fordern aber mehr Personal für die Justiz. Dabei hat Deutschland schon heute eine ungewöhnlich hohe Richterdichte. Überlange Gerichtsverfahren sind auch die Ausnahme. Wer zum Beispiel in einer Mietsache beim Amtsgericht klagte, bekam 2009 im Bundesschnitt schon nach 4,5 Monaten ein Urteil, ein Strafverfahren dauerte beim Amtsgericht im Schnitt 4 Monate. Allerdings wurde Deutschland auch schon 54-mal in Straßburg wegen einzelner exzessiv langer Prozesse verurteilt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche