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„Aber er war noch ein richtiger Rumäne“

Bei den rumänischen Parlamentswahlen am Sonntag bewerben sich über neunzig Parteien/ Von Wahlfieber ist jedoch nichts zu spüren/ Katastrophale wirtschaftliche Lage/ Die Rechten haben Sündenböcke parat: die Ungarn Siebenbürgens und die Roma  ■ Aus Oradea Roland Hofwiler

Die Fernfahrer schätzen das Motel in Piatra Craiului. Speisen werden schnell und fein serviert, und der Wirt zögert nicht, trotz Null-Promille-Grenze Schnaps, Wein oder Bier auszuschenken. Hinter dem Tresen befindet sich eine ganze Kollektion feinster Getränke, deutsches Bier, serbischer Sliwowitz, schottischer Whisky. Dazwischen ein Poster, für keinen Gast zu übersehen: ein lächelnder Nicolae Ceausescu.

Warum hängt sich jemand den ermordeten Tyrannen Ceausescu freiwillig wieder in seine Gaststätte? „Der Nicolae hatte viele Fehler, aber er war noch ein richtiger Rumäne“, sagt der Wirt. Aber hungerte man nicht unter Ceausescu, fror im Winter und konnte nur von einem privaten Motel träumen? Das sind keine Argumente für den Barkeeper: „Mir geht es sehr gut, aber unser Volk geht zugrunde. Nichts funktioniert hier mehr, die Leute arbeiten nicht, jeder stiehlt, wo er nur kann. Und dann die Ungarn, die unser Land zerstückeln wollen, die Deutschen und ihr Viertes Reich. All das hat es unter Ceausescu nicht gegeben.“

Gaststätten, Tankstellen und Motels entlang der Europastraße 15 — seit dem jugoslawischen Krieg Gastarbeiter- und Handelsroute in die Türkei — wirken wie Konsuminseln, wie früher die Intershops in der DDR. Alles ist zu haben, unerschwinglich für die Einheimischen, preiswert für die Transitreisenden.

Verläßt man aber die Straße bei Piatra Craiului und fährt ins Dörfchen Bratca, zeigt sich schon nach wenigen Kilometern die andere Realität des heutigen Rumänien. Das Lebensmittelgeschäft hat geschlossen. Öffnungszeit ist zwischen sechs und neun, verrät ein Schild an der Tür. Um sechs in der Früh kommt das Brot, um acht die Milch, manchmal noch etwas Käse und Rahm. Mehr gibt es nicht. Der leise Protest der Kunden: An die Fensterscheibe klebte jemand einen Zeitungsartikel. Die Überschrift spricht für sich: „Wann trifft Zucker ein?“ Schlagzeilen, die sich täglich in der rumänischen Presse finden. Eine Auswahl: „Wird das Militär unsere Bäckereien bewachen?“, „35.000 Liter Speiseöl versickerten in dunkle Kanäle“, „Saatgut nicht mehr auftreibbar“, „Fleischfabrik von Plünderern gestürmt“, „Hungernde Zigeuner überfallen Lebensmittellager“.

Auch in Kreisstadt Oradea (Großwardein) ist es nicht viel anders. Der einzige Unterschied zu Ceausescus Zeiten: Flohmärkte und Tauschhandel sind erlaubt, der Schwarzmarkt legalisiert. Jeder kann in sogenannten „Kommissionsgeschäften“ seine Ware anbieten — zehn Prozent Aufpreis verlangt der Händler. Auf diese Weise wechseln zehn Kilogramm Kartoffeln für drei Seidenstrümpfe die Besitzerin, werden dreißig Eier für eine Musikkassette eingetauscht, kann eine Jeans türkischer Billigmarke für einen Kanister Benzin erstanden werden.

Oradeas Fußgängerzone verwandelt sich so täglich in einen einzigen großen Bazar. Die Stände der über neunzig Parteien, die zur Parlamentswahl am kommenden Sonntag antreten, fallen dagegen gar nicht auf. Außer vier Gruppierungen stehen die anderen eh auf verlorenem Posten und werden von den Menschen nicht wahrgenommen. Zwar sprechen alle großen Parteien — die regierende „Front der Nationalen Rettung“ unter Petre Roman, die von ihr abgespaltene „Demokratische Front der Nationalen Rettung“ unter dem amtierenden Präsidenten Ion Iliescu, das Oppositionsbündnis „Demokratische Konvention“ und die extremistische „Partei der Nationalen Einheit“ — von einer „Schicksalswahl“. Doch von Wahlfieber ist nichts zu spüren.

Die Parteien haben kein Geld für Werbung. Waren unter Ceausescu die Wahlplakate für die kommunistische Einheitspartei popfarbig und im Großformat überall zu sehen, so fallen die meist auf Din-A4-Größe reduzierten schwarzweißen Propagandazettel nur den wirklich Politbegeisterten auf. Der Politologe Calin Anastasiu: „Rumänien muß sich am Sonntag endgültig von den Neokommunisten um Petre Roman und Ion Iliescu verabschieden. Zwei Jahre schon haben wir den Anschluß an Europa verpaßt, weil das Volk der demokratischen Opposition nicht vertraute.“ Aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Lage sei nun ein Meinungsumschwung festzustellen. Die Menschen wollten neue Gesichter, das aus 17 Parteien bestehende Oppositionsbündnis der „Demokratischen Konvention“ an der Regierung sehen. „Nur mit einer Einschränkung“, so Hochschuldozent Anastasiu, „sie wollen auch ihre nationalen Gefühle vertreten wissen.“

Gheorghe Funar, Bürgermeister der rumänisch-ungarisch bewohnten Großstadt Cluj (Klausenburg) ist sich seiner Stärke als Führer der „Partei der Nationalen Einheit“ wohl bewußt. Für die wirtschaftliche und politische Katastrophe hat der Rechtsaußen die Sündenböcke parat: Die knapp zwei Millionen Ungarn Siebenbürgens und die drei Millionen Roma-Zigeuner sind an allem schuld. Sein Ziel: ein „ethnisch reines Rumänien“. Sein Hauptfeind: Laszlo Tökes, jener ungarische Pfarrer, in dessen Temeswarer Kirche im Dezember 1989 der Volksaufstand gegen den Diktator Ceausescu seinen Ausgang nahm. Funar bei einem Wahlkampfauftritt in Oradea: „Wenn ich die Macht erlange, wird Tökes immer einen Platz in Gherla haben.“ Gherla war das berüchtigste Gefängnis für politische Straftäter in der Ceausescu-Ära.

Noch ist Funar nur Bürgermeister einer der größten rumänischen Städte, noch ist Tökes Bischof von Oradea. Der ehemalige „Held der Nation“ sagt nun von sich, wenn er schon nicht mehr „Vorreiter der Demokratie“ sein könne, so wenigstens der „größte Feind für alle Nationalisten“. Vor der Wahl trat er deshalb in einen zehntägigen Hungerstreik. Mit pastoralem Optimismus erklärte er: „Es kann nicht schlimmer werden, denn jeder hat die Nase voll von der alten plumpen Propaganda.“

Derweil geht der Tauschhandel im „Bazar“ von Oradea weiter. Dort findet man neuerdings auch Bilder mit dem „Heiligen“, dem Bischof von Oradea. Ein frommes ungarisches Mütterchen bietet kleine Porträts und Jesus-Kreuze zum Tausch an: ein Bildchen zum Gegenwert von drei Eiern.

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