: Ab ins Schulmuseum
Kritik an Entwurf für neues Schulgesetz: Aus Pisa nichts gelernt. Schärfere Selektion der Schüler. Zurückstellung von Erstklässlern „kinderfeindlich“
von KAIJA KUTTER und SVEN-MICHAEL VEIT
„Kein Land, das Leistung auf Kosten von Chancengleichheit erreichen will, war bei Pisa erfolgreich“, sagte Pisa-Chefkoordinator Andreas Schleicher bei einem Vortrag im Februar im Hamburger Curiohaus. Das am Montag von Senator Rudolf Lange (FDP) vorgestellte Schulgesetz (taz berichtete) spricht dem Hohn.
Auf Beschluss der Schulkonferenzen dürfen Haupt- und Realschulen ihre Schüler künftig schon ab Klasse 5 trennen. Die dann sechsjährige Realschule soll „mehr Schüler zu beruflichen Bildungswegen führen“, weil sie eine „klare Alternative zur akademischen Bildung zeigt“, heißt es in der Presseerklärung der Schulbehörde. „Das ist eine Rolle rückwärts in die 50er Jahre“, empört sich die Hamburger GEW-Vorsitzende Stefanie Odenwald. Kein Bildungstheoretiker sehe heute mehr den Nutzen einer frühen Differenzierung.
Auch die SPD-Politikerin Britta Ernst meint, „das ist die falsche Antwort auf Pisa“. So habe die Lernausgangslagenuntersuchung (LAU) ergeben, dass sich Zehnjährige von ihrer Leistung her „noch gar nicht so sehr unterscheiden“. Auch bekämen viele erst nach der Pubertät einen Leistungsschub.
Nicht mehr integriert, sondern ausgesondert werden künftig auch Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten, Sprach- und Lernstörungen. Derzeit werden für sie in 36 „integrativen Regelklassen“ (IR-Klassen) 141 Sonderschullehrer und 41 Erzieher zusätzlich bereitgestellt. Weil es „erheblich mehr Klassen“ mit Förderbedarf gebe, man diesen aber nicht befriedigen könne, soll die Betreuung in den Klassen abgeschafft werden. Die Kinder werden stattdessen zusätzlich in „Förderzentren“ unterrichtet. Ziel sei zwar der Verbleib in der Klasse. Es könne vom Förderzentrum aber auch „die Überweisung in eine Sonderschule initiiert werden“, heißt es in der Behördenerklärung.
„Für unsere Schule ist das eine Katastrophe“, sagt Schulleiter Rainer Kühlke von der Harburger Grundschule Grumbrechtstraße. „Wir müssten dann sehr, sehr viele Kinder an Förderschulen abgeben.“ Kühlke rechnet damit, dass 90 seiner 390 Schüler gehen müssten. Eine solche Aussonderung ist für den Pädagogen auch ökonomisch nicht sinnvoll. „Der Unterricht an der Sonderschule ist viel teurer.“ An der Grumbrechtstraße gebe es ein in 13 Jahren entwickeltes Modell mit offenem Unterricht und jahrgangsübergreifenden Klassen, das es auch ermögliche, verhaltensauffällige Kinder zu unterrichten.
„Das neue Schulgesetz lehnt alles ab, was mit ‚I‘ wie ‚Integration‘ anfängt“, sagt Britta Ernst. Die „Integrierte Haupt- und Realschule“, die Schüler bis Klasse 9 nicht trennt und einer neuen Studie zufolge sehr erfolgreich ist, darf zwar als Schulversuch weitermachen, bekommt aber weniger Sach- und Personalmittel als bisher.
Neu ist die „Zurückstellung vom Schulbesuch“ bei Kindern, die Rückstände bei der Sprachentwicklung haben. „Wenn man bedenkt, wie Kinder der ersten Klasse entgegenfiebern, ist das total kinderfeindlich und suggeriert ein Versagen von Anfang an“, sagt GEW-Chefin Odenwald. Die Sprache der Kinder sollte in der Schule gefördert werden. Problematisch sieht sie auch die Stärkung von Lehrerrechten gegenüber Kindern, die den Unterricht stören. Man könne Schwierigkeiten nicht vor allem durch Bestrafung in den Griff bekommen. „Wir brauchen stattdessen Krisenintervention“, sagte Odenwald. Auch die geplante Abschaffung der Lernmittelfreiheit, die vor allem arme Familien treffe, lehnt sie ab: „Gutscheine sind diskriminierend.“
„Heftigen Gegenwind“ kündigte gestern auch GAL-Schulexpertin Christa Goetsch an. Die Einführung der sechsjährigen Realschule, die Einschränkung der integrativen Regelklassen, die Schwächung der Elternmitsprache und die Wiedereinführung der Notenzeugnisse seien die schlimmsten von „vielen schlechten Ideen“. Mit diesem Gesetzentwurf gehöre Lange „ab ins Schulmuseum“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen