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ARD-Doku über OdenwaldschuleOrt des Guten, Hort des Schreckens

Der Film "Geschlossene Gesellschaft" (22.45 Uhr, ARD) schildert die sexuelle Gewalt an der Odenwaldschule. Sichtbar wird das Netzwerk, das die Taten ermöglichte.

Trügerische Idylle: Hinter den Mauern der Odenwaldschule wurden jahrelang Jugendliche von ihren Lehrern sexuell missbraucht. Bild: dpa

Dieser Film ist ein starkes Stück. Er mutet den Zuschauern praktisch ab Minute eins zu, sich Schilderungen sexueller Gewalt anzuhören, und es handelt sich um real erfahrene Missbrauchserfahrungen, um echte Begebenheiten. Sie liegen 30 und mehr Jahre zurück. Sie sind geeignet, den Schleier von der sterilen Formel Missbrauch zu reißen. Das ist extrem unbequem, und doch ist es wichtig. Die Gesellschaft muss endlich erfahren, was Missbrauch ist: Wie er abläuft, wie es dazu kommt, wie perfide die Mit-Verschuldungsstrategien der Täter sind.

Aber der Einbruch in die Blackbox "Ich bin missbraucht worden" macht nur den kleineren Teil der Bedeutung des Films von Luzia Schmidt und Regina Schilling aus. Wichtiger ist, dass jenseits der Opfergeschichten das Netzwerk erkennbar wird. Wie weit die Verbindungen des Gerold Becker reichten, jenes Mannes, der wie kein anderer die Reformpädagogik predigen konnte - und doch mutmaßlich 87 Jungen teilweise gewalttätig missbraucht hat.

Becker in der Paulskirche mit Astrid Lindgren, Becker mit Hartmut von Hentig, Beckers Verbindungen zu Richard von Weizsäcker und Hellmut Becker, dem heimlichen Bildungsminister der Republik: Die allererste Reihe der linksliberalen Bundesrepublik tritt in "Geschlossene Gesellschaft" auf. Der Film zeigt das Netzwerk, das den Missbrauch an der wichtigsten deutschen Reformschule möglich machte - bewusst oder unbewusst. Man darf hoffen, dass dies Folgen hat.

Dass zum Beispiel das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung endlich energisch den Verstrickungen seines Gründungsdirektors Hellmut Becker nachgeht. Denn nicht zuletzt wurde mit dessen Zustimmung Gerold Becker an die Odenwaldschule delegiert - obwohl er von der pädosexuellen Orientierung seines Namensvetters gewusst haben muss. Bisher tun die Verantwortlichen so, als hätte das Institut damit nichts zu tun.

Krasser Absturz

Filmisch ist die knapp 90-minütige Doku kein Highlight. Die Kamera wackelt an manchen Stellen bedenklich, sie führt die Interviewten bisweilen vor, indem sie diese in unvorteilhaften und dramaturgisch schwer zu rechtfertigenden Positionen zeigt. Die Erzählstruktur ist chronologisch: Vorgeschichte, Tatzeit, verpasste Aufklärung. Aber diese Simplizität ist zugleich eine Stärke, weil sich der Zuschauer zunächst einmal ein Bild machen kann, wie bedeutsam die Odenwaldschule (OSO) für die Nachkriegszeit war - und wie modern. Umso krasser wirkt dann der Absturz.

Wie konnte es geschehen, dass sich an der demokratischsten Schule Deutschlands teils bis zu sechs Päderasten die Jungen zuschanzten? Der Film kann, wie die AutorInnen sagen, keine abschließende Antwort geben. Aber er wirft die beklemmende Frage in aller Dringlichkeit auf: Wenn es an der OSO geschehen konnte, die von Schülerparlament und linker Debattenkultur geprägt war, ist es dann überall möglich? Ist die Antwort auf pädagogische Naivität, Unfähigkeit und Skrupellosigkeit etwa nicht "mehr Schuldemokratie"?

Es lohnt sich, den Film anzusehen und einigen der wichtigsten Protagonisten in die Augen zu sehen. Der Zuschauer selbst soll begreifen, wie schwer es ist, die Aufklärer von den Lügnern und Geschichtsklitterern zu unterscheiden. Namen spielen dabei vielleicht die geringste Rolle. Denn die Lehre ist so grausam wie wichtig: die Erkenntnis, dass sich auch scheinbar perfekt modellierte Organisationen mit einer durch und durch guten Idee in kurzer Zeit in Orte des Schreckens verwandeln können. Eines Schreckens, ausgelöst von sexueller, Biografien zerstörender Gewalt, den man als Zuschauer mit Händen greifen zu können glaubt - und doch haben ihn viele nicht bemerkt.

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11 Kommentare

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  • Z
    Zyniker

    DIE dürfen alles denn DIE sind ELITE.Auch die Justiz und der deutsche Rechtsstaat sehen das genauso.Und da kommen so ein paar Altschüler und beschweren sich über den Missbrauch durch diese Elitemänner.Ja..wo Kommen wir denn da hin...

  • W
    Wissender

    Und wie geht es jetzt weiter nach diesem verharmlosenden Filmchen???Die Netzwerke sind doch heute noch so mächtig das gegen die auch heute nichts auszumachen ist ausser man will mächtig Ärger bekommen.Und Schweigen und Täterschutz ist deren oberstes Gebot bis der letzte aus diesen Kreisen verstorben ist.Das wirft auch ein entsprechendes Licht auf dieses Land, wer hier das sagen hat und deren Justiz!Keiner kann jetzt mehr behaupten er weiss von nichts.

  • EU
    Ex-Odenwaldschülerin und Betroffene

    Interessant wie diese Darsteller sich bar jeder Schuld geben und noch heute keine Einsichten zeigen.Üble geschichte....hat man die Netzwerke auch in der Justiz darf man alles -auch Sachen für die andere lebenslänglich kriegen.Für mich war jeder Tag an dieser " Schule" der blanke Horror.Und ich bin nicht die einzige.

  • E
    Ex-Odenwaldschüler

    Leider nur ein Täterschutzfilm. Eine besondere Zumutung war insbesodere auch dieser henner müller-holtz.

  • E
    Ex-Odenwaldschüler

    Leider nur ein Täterschutzfilm.

  • SP
    Stefan Peters

    Die Odenwaldschule beauftragt Absolventinnen von Partnerschulen, die Gespräche zwischen Schulleitung, Schulvorstand und Missbrauchsopfern zu filmen. Daraus entsteht eine Dokumentation.

     

    Die Filmerin Schmid steuert als Stimme aus dem Off ihre Gedanken bei. Sie begeht Flucht nach vorne, entzieht sie sich vorab möglichen Vorwürfen, selber Teil des Internats-Netzwerks zu sein. Diese Haltung zeigt Befangenheit, die Sicht bleibt subjektiv.

     

    Das Elite-Netzwerk funktioniert. Die Schule liefert ihren geistigen Zöglingen exklusives Medienmaterial, öffentlich-rechtliche Gelder gehen an die Filmerinnen.

     

    Die einzige Erkenntnis: Netzwerke greifen so unglaublich viel weiter als man ahnt.

  • SP
    Susanne Palme

    Ich finde den Film gelungen, da hier ein Mosaik aus Fakten, Tatsachen und Zeitzeugnissen inmitten des Strudels von Unsäglichkeiten entsteht und die Arbeit zu "sortieren" dem Zuschauer überlassen wird. Die Regisseurinnen verzichten auf eigene Antworten, Bewertungen oder Erklärungen.

    Die Fassade aufrecht zu erhalten- einendes Moment elitärer Zirkel, herausgehobener oder sich selbst heraushebender Gemeinschaften- scheint sich als das eigentliche "Monster"zu entpuppen, hinter dem Mitglieder einer verschworenen Gemeinde sich versuchen weg zu ducken. Alte deutsche Schule?

    Berührend der Mut der Opfer, der Schulleiterin Kaufmann, klar die Worte des an der Podiumsdiskussion beteiligeten Psychoanalytikers anlässlich der 100 Jahrfeier der Odenwaldschule.

  • V
    VERO

    "Filmisch ist die knapp 90-minütige Doku kein Highlight."

     

    Inhaltlich (leider) auch nicht.

     

    [./.] Jeder vernünftige Schulleiter hätte ebenso gehandelt [./.]

     

    Zitat vom damaligen Lehrer Henner Müller-Holtz zur Person vom damaligen Schulleiter Wolfgang Harder als Nachfolger des Haupttäter und Schulleiters Gerold Ummo Becker.

     

    Diesem weiblichen Schutzbefohlenenliebhaber (hat er selber zugegeben) solch einen dominanten Raum in dem Film einzuräumen, empfinde ich nur noch als perfide.

     

    Seine Aussage, dass Täterschutz höher zu bewerten ist als Zivilcourage ist unsäglich. Dem "normalen" Zuschauer wird suggeriert, dass alles in Ordnung war. Befehlsnotstand für Exekutionskommando der Frontkämpfer und Mauerschützen inklusive.

     

    Keine kritische Nachfrage zu seinem Worten und den Aussagen von Benita Daublebsky (ehemalige Lehrerin und spätere Arbeitgebervertreterin). Letztere hat doch alles noch gedeckelt.

     

    Auch keine Konfrontation mit den Fakten gegenüber der Schulleiterin Margarita Kaufmann. Sie wusste früher Bescheid als bisher von ihr eingeräumt und hat nicht gehandelt = weiter vertuscht.

     

    Dieser Film war (leider) keine Dokumentation.

     

    Für mich besonders verletzend sind die Schilderung zum Hearing am Jubiläum, dargestellt als Veranstaltung der OSO / Odenwaldschule. Das war keine Idee der Schule, des Trägervereins, des Altschülervereins. Von diesen wurden noch Steine in den Weg gelegt. Dieser Termin musste abtrotzt werden !

  • P
    Peter

    Dieser Film hat keine neuen Erkenntnisse gebracht, die nicht schon durch die Presse aufgedeckt wurden. Was hat gefehlt?

    1. Stellungnahme des Hess. Bildungsministeriums

    2. Was tat oder tat nicht die Staatsanwaltsschaft?

    3. Was tat das Lehrerkollg. danach??

    4. Warum wurde die Schule nicht geschlossen??

     

    Diese Fragen haette der Film beantworten koennen, wenn er dann auch wollte. Aber wollte er??

  • CG
    Christian Gropper

    Christian Füller schrieb am 21.02. diesen Jahres:

    "es gibt keinen keinen einverständigen sex mit kindern und jugendlichen, wie sie suggerieren. das ist – kurz und knapp – sexuelle gewalt mit schutzbefohlenen und/oder minderjährigen."

    und warf einem Blogger vor

    "sie gehören eindeutig zur täterlobby, welche die zerstörung von jungen menschen rechtfertigt – um ihrer lust frönen zu können."

    Beide Zitate von http://ganymed.blogsport.de/2011/02/19/dietrich-w-und-die-haessliche-taz/#more-264

    Das Thema des Blogeintrags war der hässliche Umgang der taz mit einem verstorbenen Redakteur, dessen verdienstvoller Lebenslauf nach Pädophilievorwürfen völlig verantwortungslos und auf übelste Art umgeschrieben wurde.

     

    Wie geht man mit einem "Journalisten" um, der unhaltbare Dogmen (wie bei Dogmen ja auch so üblich) bezüglich der Sexualität von Jugendlichen vertritt anstatt zu differenzieren? Der Kritikern seiner fanatisch-aktivistischen Sicht vorwirft einer ominösen Täterlobby anzugehören und Kindern schaden zu wollen? Der einvernehmliche Intimitäten und Vergewaltigung als ein und denselben Tatbestand betrachtet? Sollte dieser Gutmenschenaktivist tatsächlich weiterhin für die taz-Berichterstattung zu solchen Themen herangezogen werden?

     

    Aktivismus, wie von Herrn Füller vorgeführt, schadet letztendlich Kindern, da homopädophile Menschen mit ihren Problemen und Ängsten alleine gelassen werden bzw sogar noch zusätzlich stigmatisiert werden. Zum Glück gibt es zur Zeit (noch) Selbsthilfeboards im Internet und immer wieder kann man in der Diskussion Stimmen von Menschen hören, die einen Pädophilen kennen und die dummen Klischees bei diesem nicht bestätigt sehen. Irgendwo dort liegt die Zukunft und in dieser werden auch weniger Kinder und Jugendliche sexueller Gewalt ausgesetzt sein.

    Leider trägt Herr Füller dazu nichts und wieder nichts bei...

  • SP
    Stefan Pahlke

    Es zeigt sich nicht nur an der Odenwaldschule, dass überall wo Stärkere auf Schwächere treffen, Ausbeutung stattfindet, wenn keine ausreichende Kontrolle gewährleistet ist. Arbeitgeber beuten Arbeitnehmer aus, Westeuropäer Osteuropäer (Sex, Arbeit), Männer Frauen, Erwachsene Kinder, Reiche Arme, Mächtige somit Ohnmächtige....So traurig das ist, ist es doch verwunderlich, dass wir das nicht längst berücksichtigen und strikt bekämpfen, heißt doch Demokratie Kontrolle von Macht! Noch immer sind wir viel zu vertrauensselig den Mächtigen gegenüber und das wird noch unser Verhängnis werden, wenn wir die Mächtigen als Bürger nicht sehr viel kritischer gegenüberstehen und strikte Rechenschaft fordern!