AKW-Laufzeitverlängerungen ausgesetzt: Reste einer Atomregierung
So schnell kann es gehen: Im Laufe von drei Tagen knickt die schwarz-gelbe Regierungskoalition beim Atomkurs ein - zumindest ein bisschen. Und verkündet, erste AKWs abschalten zu wollen.
BERLIN taz | Nichts ist mehr sicher. Auch die Pro-Atom-Position der Regierung nicht. Am Montagnachmittag erklärte Kanzlerin Angela Merkel, die von Schwarz-Gelb im Herbst beschlossene Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke werde "für drei Monate" ausgesetzt. Derweil werde die Sicherheit aller Meiler geprüft. Dabei gebe es "keine Tabus". So sei auch ein sofortiges Abschalten von alten Reaktoren möglich - "das wäre die Konsequenz, sonst wäre es ja kein Moratorium".
Und tatsächlich muss das AKW Neckarwestheim 1 angesichts des Moratoriums vom Netz genommen werden. Das machte Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) am Montag nach der Regierungserklärung von Merkel deutlich. Neckarwestheim 1 läuft schon seit Januar nur noch wegen des schwarz-gelben Laufzeitplus.
Und auch der bayerische Umweltminister Markus Söder (CSU) soll in einer Telefonschalte des CSU-Präsidiums am Montagabend erklärt haben, das er das umstrittene Kernkraftwerk Isar I abschalten wolle. Dafür soll er laut der Nachrichtenagentur dpa von seinen CSU-Kollegen in der Konferenz Beifall erhalten haben.
Vor wenigen Tagen war noch undenkbar, dass sich schwarz-gelbe Koalitionäre skeptisch äußern zur Sicherheit deutscher Atomkraftwerke.
Am Tag drei nach der verheerenden Katastrophe in Japan ist der Druck für die Atombefürworter zu groß geworden. CDU-Bundesumweltminister Norbert Röttgen hatte als Erster "Ja" gesagt - ja, die Frage nach der Beherrschbarkeit der Kernenergie müsse neu gestellt werden. Das war bereits Samstagnachmittag. Fast zeitgleich hatte Angela Merkel auf einer Wahlkampfveranstaltung lediglich von "Demut" gesprochen, die das Ereignis einfordere. Eilig hatte sie da für den Abend einen Krisengipfel ins Kanzleramt berufen. Danach sagte sie, die 17 deutschen Atomkraftwerke seien "nach Maßgabe dessen, was wir wissen, sicher", versprach aber zugleich schon den Sicherheitscheck. Sie will der Opposition keine Angriffsfläche bieten, aber auch nicht abweichen vom Pro-Atom-Kurs.
Engergiedabtte schien schon vergessen
Am Montag reicht das aber nicht mehr. Wieder ist es nicht die Kanzlerin, über die die Qualitätsveränderung bei der Regierung zuerst verlautet wird. Es ist der Vizekanzler. Es sei vorstellbar, die Laufzeitverlängerung auszusetzen, zitierten Nachrichtenagenturen Westerwelle am Montagmorgen.
Am Mittag gibt der sich dann vor Journalisten vorsichtiger: Eine "unabhängige Expertenkommission" solle eine "neue Risikoanalyse aller deutschen Kernkraftwerke" vornehmen. Bis wann diese Ergebnisse liefern solle, kann er "derzeit nicht beantworten".
Kein Wort von ihm, dass die Regierung die Laufzeiten aussetzen will. Stattdessen versuchte der FDP-Vorsitzende die Debatte wieder einzufangen: "Die Sicherheitsdebatte und die Laufzeitdebatte muss man doch trennen." Zu spät.
Im Regierungslager geht es hin und her. Die Energiedebatte ist zurück, dabei schien sie schon vergessen, die schwarz-gelbe Koalition hatte sich einmal über alle Atomkritiker hinweggesetzt. Atomkraft sei die "Brückentechnologie" ins Zeitalter der Ökoenergien, so hat die Union das noch im Bundestagswahlkampf 2009 propagiert. So hat sie es im Koalitionsvertrag mit der FDP festgelegt. So hat die Regierung es dann umgesetzt: Laufzeitverlängerung im Schnitt um 12 Jahre.
Es geht auch um Wahlen
Der schwarz-gelbe Atomdeal 2010 kam nicht gut an. Zu klar war, dass er vor allem vier Atomkonzernen nutzt und mit einem Umbau hin etwa zu Windkraft wenig zu tun hat. Im Gegenteil: Der Atomstrom verstopft Leitungen. Aber: Der Ausstieg aus dem Ausstieg war festgezurrt.
Das könnte sich als taktischer Fehler erweisen. In Deutschland kommt Atomkraft nicht an. Lange argumentierten Befürworter, die Katastrophe in Tschernobyl hätte an russischer Schrotttechnik gelegen. Das geht seit den Problemen im hochtechnologisierten Japan nicht mehr. Und für Merkel, Westerwelle und Röttgen geht es in diesen Tagen nicht mehr nur um die Sache, sondern auch um Wahlen.
In Sachsen-Anhalt wird Sonntag abgestimmt, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eine Woche darauf. Und auch in Nordrhein-Westfalen, Röttgens Heimat, wird wohl gewählt. Röttgen galt in den Verhandlungen letztes Jahr in der Union als Störfaktor. Immerfort erklärt er, für ihn dürfe die Atombrücke ins Ökoenergiezeitalter kürzer ausfallen. Doch er wurde abgeblockt, von der Physikerin Angela Merkel, von den Unions-Ministerpräsidenten im Süden. Die meisten Atomkraftwerke stehen in Baden-Württemberg, Hessen und Bayern. Die Union hätte sich ein moderneres Image geben können, jetzt muss sie um Wählerstimmen bangen.
"Die Hälfte ist Schock"
Die Opposition hat sich längst eingestellt. Grüne und SPD fordern die sofortige Abschaltung der ältesten Atommeiler. Am Donnerstag bringen beide Fraktionen jeweils Anträge zur namentlichen Abstimmung in den Bundestag ein. SPD-Vizefraktionschef Ulrich Kelber fordert die Abschaltung der acht ältesten Atomkraftwerke Deutschlands innerhalb der nächsten sechs Monate. "Wir müssen die vier ältesten sofort abschalten, also Biblis A und B, Brunsbüttel und Neckarwestheim", sagte er der taz. Vier weitere sollten im nächsten halben Jahr vom Netz gehen.
"Der Bundestag sollte noch in dieser Woche Nägel mit Köpfen machen und die Verlängerung der Laufzeiten zurücknehmen", forderte Kelber weiter. Bis zum Ende des Jahrzehnts müssten alle deutschen Atommeiler vom Netz. Zur Reaktion der Koalition sagte er: "Die Hälfte ist Schock, die andere Hälfte Wahltaktik." Sollte in Baden-Württemberg am 27. März mit Rot-Grün eine atomkritische Regierung an die Macht kommen, wäre das für Schwarz-Gelb im Bund der "innenpolitische Gau".
Grünen Fraktionschef Jürgen Trittin verteidigte sich unterdessen gegen die Vorwürfe, die Grünen würden die Katastrophe in Japan innenpolitisch ausnutzen. "Wir haben schon lange gesagt, dass Neckarwestheim vom Netz muss. Wir legen in unserer Argumentation also keine Schippe drauf, sondern blebien bei unseren bisherigen Forderungen", sagte er der taz. Wie wahrscheinlich ist, dass Merkels Truppe tatsächlich einen neuen Atomkurs einschlägt? Trittin meint, Merkel wolle "ihre katastrophale Fehlentscheidung vom Herbst letzten Jahres aussitzen". Er glaubt nicht an den schwarz-gelben Einstieg in den Ausstieg. Die Aktien deutscher Energiekonzerne fielen.
HANNA GERSMANN, MATTHIAS LOHRE, GORDON REPINSKI & PAUL WRUSCH
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