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ADHS und BarrierenEin Tunnel durch den Bullshit

ADHSler haben kein fehlerhaftes Gehirn, im Gegenteil: Ihre Besonderheiten können nützlich für die Gesellschaft sein – wenn wir endlich die Barrieren abbauen.

„Aufräumen ist für Weicheier!“ Foto: Elva Etienne/getty images

A DHS zu haben, hat Vorteile: Uns ist nie langweilig, denn in unserem Kopf laufen immer mehrere Filme gleichzeitig. Mindestens einer davon ist eine Komödie. Wir checken die Menschen um uns herum schneller, als die ihren Namen sagen können. Und wir finden aus jeder Sackgasse einen Weg, notfalls durch einen Tunnel.

Das alles hat aber auch eine dunkle Seite: Nie Ruhe im Kopf zu haben, ist ultraanstrengend. Denn es laufen eben auch Melodramen und Horrorfilme darin. Der Tunnel wird eh nie fertiggestellt, weil graben langweilig ist – und dann können wir das nicht. Und auch wenn wir jede Menge Empathie für andere aufbringen: Für unsere eigenen Defizite haben wir trotzdem oft kein Verständnis.

Anders als das D für Defizit in ADHS vermuten lässt, ist die Funktionsweise unseres Gehirns laut For­sche­r:in­nen aber keine Fehlentwicklung. Sondern hat sich evolutionär an Bedürfnisse bestimmter Gesellschaften angepasst, etwa an die nomadischer Völker. Die hohe Ablenkbarkeit – in der Schule ein Problem – ist in anderem Kontext lebensrettend. Denn auf jedes kleine Geräusch zu reagieren, könnte in einer Jäger-und-Sammler-Kultur einen fetten Hasenbraten mehr zum Abendessen oder einen entscheidenden Vorsprung vor dem Säbelzahntiger bedeutet haben.

Aber nicht nur die biochemischen Gegebenheiten in unserem Gehirn sind verantwortlich für unsere Stärken und Schwächen. Wenn man in einem System aufwächst, das nicht für einen gemacht ist, kennt man mehrere Perspektiven. So wie Menschen nichtdeutscher Herkunft. Oder Linkshänder:innen. Oder Frauen. Die eigene Wahrnehmung wird nur von einer bestimmten Gruppe verstanden. Um sich auch außerhalb dieser Gruppe zu orientieren, muss man die Codes der Mehrheitsgesellschaft kennen.

Das ist das Privileg, das wir ADHSler nicht haben: So sein dürfen, wie wir sind

Das allein reicht aber oft nicht. ADHSler sollen nicht nur wissen, wie die neurotypische Norm tickt, wir sollen uns daran anpassen, am liebsten so werden wie sie. „Mach dir eine To-do-Liste und arbeite deine Aufgaben nacheinander ab.“ „Sitz still und regungslos da, solange der Lehrer etwas erklärt.“ „Lass die Leute ausreden. Wenn du mitten im Gespräch eine Idee hast – schreib sie auf. Aber am besten: Hab einfach keine Ideen!“ So was hören wir von Kindheit an die ganze Zeit. Es ist so, wie Linkshänder dazu zu zwingen, mit rechts zu schreiben. Oder Migranten, die eigene Muttersprache zu vergessen.

Immer noch unterdiagnostiziert

Von neurotypischen Leuten wird keine Anpassung verlangt. Sie müssen noch nicht einmal eine andere Perspektive kennen, um klarzukommen. Und weil wir das alle in schmerzhaften Ausgrenzungserfahrungen gelernt haben, würde ein ADHSler kaum jemals einem NT, einem neurotypischen Gegenüber, ins Gesicht sagen: Kannst du bitte schneller sprechen? Und auch mal interessantere Sachen sagen? Ich schalte hier gleich ab.

Oder: Nerv mich nicht mit deiner Strukturbesessenheit. Vertrau doch einfach mal dem Zufall! Spontaneität ist besser als Planung. Oder: Wieso soll ich die Wohnung aufräumen? Ordnung ist was für Weicheier, die im Chaos untergehen. Und komm mir nicht immer mit deinen Vorschriften: Regeln sind nur Vorschläge. Oh, ich lass’ dich gar nicht zu Wort kommen? Dann unterbrich mich halt und rede lauter, wenn du was zu sagen hast!

Die meisten NTs würden wohl sagen: Das kann ich nicht, denn so bin ich nicht. Und genau das ist ihr Privileg, das wir ADHSler nicht haben: So sein dürfen, wie wir sind.

Vor wenigen Tagen hat das Deutsche Ärzteblatt Daten von Krankenkassen ausgewertet, die einen enormen Anstieg von ADHS-Neudiagnosen aufweisen. Allein in Deutschland hat sich die Zahl zwischen 2015 und 2024 verdreifacht. In den USA ist man mittlerweile sogar schon so weit, dass die Zahl der Diagnosen annähernd so hoch ist wie die der tatsächlich Betroffenen, geschätzte 2,5 Prozent aller Erwachsenen. Das heißt: Ex­per­t:in­nen gehen davon aus, dass ADHS noch immer deutlich unterdiagnostiziert ist.

Das sind richtig gute Nachrichten: Je mehr es gibt, desto mehr Betroffene können sich mit ihrer Sicht am Diskurs beteiligen. Auch wenn diese Kolumne und anderer Content der Beweis sind, dass ADHSler gelesen und gehört werden: Es braucht viel Arbeit, um die Büroetagen, Klassenzimmer und Kommentarspalten der Republik von all den Vorurteilen, dem Anpassungsdruck und dem belehrenden Bullshit freizuräumen und sie damit ein bisschen barrierefreier für Neurodiverse zu machen.

Denn keiner will vermittelt bekommen: Anders wärst du besser. Also, liebe Neuronormies: Helft ihr uns beim Tunnelgraben?

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Sunny Riedel
Redakteurin taz1
Seit 2011 bei der taz. Leitet gemeinsam mit Anna Klöpper das Ressort taz.eins. Hier entstehen die ersten fünf Seiten der Tageszeitung. Themen: Latein, Amerika und Lateinamerika. An der DJS gelernt.
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