97. Jahrestag Genozid an Armeniern: Der Tod in deutschem Interesse

Deutschlands Rolle beim Genozid an den Armeniern war nicht nur die eines Zuschauers. Um keinen Preis sollte das Bündnis mit der Türkei in Gefahr geraten.

Ein Bild von Armeniern auf der Flucht, aufgenommen von Armin Wegner, einem deutschen Lieutenant, der Massaker an Armenier dokumentierte. Bild: reuters

ISTANBUL taz | Es ist der 17. Dezember 1915. Seit eineinhalb Jahren tobt in Europa und im Nahen Osten der Erste Weltkrieg. Deutsche Soldaten verbluten im Stellungskrieg in Frankreich und an der langen Front mit Russland. In dieser Situation bekommt Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg ein Schreiben seines Botschafters in Konstantinopel vorgelegt. Botschafter Graf Wolff Metternich fordert darin, dass das Deutsche Reich endlich gegen die Armeniermassaker seines Verbündeten Türkei aktiv vorgeht.

Bethmann-Hollweg antwortet: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“

Wenn am Dienstag zum 97. Mal des Völkermords an den Armeniern gedacht wird, wird wieder viel über die türkische Leugnung des Genozids geredet werden, aber wohl wenig über die deutsche Rolle. Der Bundestag hat im Jahr 2005 eine Entschließung zur Erinnerung an die Vertreibung und Massaker an den Armeniern verabschiedet. Darin heißt es: „Der Bundestag bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen.“

Der 24. April wird von den Armeniern weltweit als Beginn des Völkermordes gesehen, weil an diesem Tag im Jahr 1915 die Deportationen mit der Verhaftung der armenischen Intelligenz in Konstantinopel begann. Kurz darauf folgte die Vertreibung aller Armenier aus den Ostprovinzen, wenig darauf auch aus Süd- und Mittelanatolien. Die Menschen wurden in Todesmärschen durchs Land getrieben, das Ziel war die syrische Wüste. Über eine Million Menschen kam entweder schon auf den Märschen um oder verhungerte später in der Wüste. (jg)

Das hört sich gut an, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn das Deutsche Reich war im Ersten Weltkrieg in der Türkei durchaus mehr als nur ein gut informierter Beobachter, es war auch mehr als ein beliebiger Verbündeter: Die Deutschen waren der „große Bruder“ ihrer damaligen türkischen Verbündeten. Die deutsche Militärmission unter General Liman von Sanders beriet nicht nur, sie handelte auch selbst. Ohne die Deutschen, schrieb später Henry Morgenthau, der damalige amerikanische Botschafter in Konstantinopel, „ging gar nichts“.

800 Offiziere unterstützten das türkische Heer

Über die Rolle der deutschen Militärs im türkischen Heer und in der Marine, die von anfänglich knapp 100 Offizieren zuletzt auf mehr als 800 Offiziere und 25.000 Soldaten aufgestockt worden waren, ist im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr viel übrig geblieben. Das gilt erst recht für die deutsche Rolle bei der Deportation und Vernichtung der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich.

Das Interesse der deutschen Führung galt damals einzig dem Ziel, die osmanischen Armeen dabei zu unterstützen, möglichst starke Kräfte des Gegners zu binden und sie so daran zu hindern, auf dem europäischen Kriegsschauplatz aktiv zu werden. Wenn die Armenier dem im Weg standen, dann mussten sie eben weg.

Ein exemplarisches Beispiel dafür ist Oberstleutnant Felix Guse. Er war von Beginn des Krieges an Chef des Generalstabs an der türkischen Kaukasusfront. Guse veröffentlichte 1925 einen Aufsatz in den Monatsheften der Reichswehr, Wissen und Wehr, über den „Armenieraufstand 1915 und seine Folgen“.

Guse will den ehemaligen Bündnispartner vor dem Vorwurf des Völkermordes in Schutz nehmen. Er vertrat die Meinung, dass sich das Auftreten der Armenier gegen die Türken „nach und nach bis zum offenen Aufruhr steigerte, der dann am 20. April (1915) in Van ausbrach“. Was in der internationalen historischen Forschung als vereinzelte defensive Aktionen einer bedrängten armenischen Bevölkerung beschrieben wird, ist für Guse die entscheidende Begründung für den Völkermord, weil der angebliche Aufstand der Armenier, in Kollaboration mit den Russen, „die türkische Armee zutiefst bedrohte“.

Guse schloss sich deshalb den Maßnahmen, die die türkische Regierung traf, vollständig an. „Die Antwort der türkischen Regierung lautete, das Land wird von Armeniern geräumt. Was man auch dagegen sagen mag, es wird nicht möglich sein, eine andere Lösung zu finden, die der Selbsterhaltung der Türken Rechnung trüge.“

Vergleiche mit Juden und Parasiten

Diese Sicht der Armenierfrage, die den Tod Hunderttausender Zivilisten in Kauf nahm, war für die deutschen Offiziere, die damals im türkischen Heer Dienst taten, praktisch ohne Ausnahme evident. Der Vorgesetzte von Guse war General Fritz Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs im Großen Hauptquartier in Konstantinopel und damit oberster Kriegsplaner direkt nach dem Kriegsminister und Feldherrn Enver Pascha. Bronsart von Schellendorf befürwortete nicht nur die Deportation der Armenier aus militärischer Notwendigkeit, sondern äußerte sich auch nach dem Krieg in übelster Form über die armenische Minderheit.

In einem Brief von 1921 an das Auswärtige Amt schrieb er: „Der Armenier ist nämlich, wie der Jude, außerhalb seiner engeren Heimat ein Parasit, der sich von dem Marke des Fremdvolkes mästet, unter dem er seinen Wohnsitz aufschlägt. Alljährlich wandern zahlreiche Armenier aus ihrem Stammlande nach Kurdistan, um nach kurzer Zeit ganze kurdische Dörfer zu bewuchern und sich dienstbar zu machen. Daher der Hass, der sich oft in ganz mittelalterlicher Weise durch den Mord missliebig gewordener Armenier entladen hat.“

Während Bronsart sich nach dem Krieg nicht dazu äußerte, ob er selbst Deportationsbefehle erstellt und unterschrieben hat – nachweislich hat er mindestens einen unterschrieben –, gab sein ihm unmittelbar unterstellter Operationschef Otto von Feldmann zu, dass er dazu geraten habe, „zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen“. Den Rat darf man getrost als nachträglichen Euphemismus betrachten, denn ein Operationschef rät nicht, er ordnet an.

Botschafter Metternich war ehrlich empört

Wer nun glaubt, deutsche Militärs hätten sich in der Türkei Eigenmächtigkeiten erlaubt, die von der politischen Führung nicht gedeckt gewesen waren, muss sich eines Schlechteren belehren lassen. Als Ende 1915 Paul Graf Wolff Metternich als neuer Botschafter in Konstantinopel eintraf, wurde diesem schnell klar gemacht, wie Berlin die Armenierfrage sieht.

Metternich war über die Massaker ehrlich empört und verlangte ein hartes Einschreiten gegen die türkischen Verantwortlichen. An das Auswärtige Amt schrieb er, man solle „in unserer (zensierten) Presse den Unmut über die Armenierverfolgung zum Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufhören. Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen wir der türkischen Regierung Furcht vor den Folgen einflößen. Wagen wir aus militärischen Gründen kein festeres Auftreten, bleibt nichts übrig als zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert.“

Doch Metternich hatte da offenbar noch nicht mitbekommen, was die offizielle deutsche Linie war. Der Chef des Auswärtigen Amts, Staatssekretär von Jagow, reichte das Schreiben weiter an Reichskanzler von Bethmann-Hollweg, der dazu notierte: „Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während eines laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist.“ Und dann fiel der eingangs schon erwähnte Satz: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“

So sah die „unrühmliche Rolle“ des Deutschen Reiches bei der Ermordung und Vertreibung der Armenier aus.

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