90 Jahre Rote Armee: "Trotzki ist größer als der Zar"
Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth schildert mit offensichtlicher Faszination die Armee der Bolschewiki im polnisch-russischen Krieg 1920.
Genosse Regimentsarzt
Vor drei Tagen sah ich in Augustowo, wie ein einfacher russischer Soldat einen schlafenden Regimentsarzt weckte. Der Muschik schrie nicht etwa: Euer Gnaden, Infanterist Iwan Iwanowitsch Kolohin bittet Sie gehorsamst, aufstehen zu wollen, sondern "Stawajtowarysz!", was zu Deutsch heißt: Steh auf, Genosse!
Und -. könnt ihr's glauben? - der Regimentsarzt stand wirklich auf.
Man kann die Rote Armee verstehen, wenn man die Phantasie aufbringt, sich einen Offizier vorzustellen, der nicht weiterschläft, wenn ihm ein Infanterist: Steh auf! sagt. Aber das ist noch immer nicht das Entscheidende. Sondern die Tatsache, daß der also geweckte Offizier auch weiter Offizier bleibt. Denn ich sah, wie der Regimentsarzt sich den Schlaf aus den Augen rieb und dem Muschik befahl "Pajdjom!" - und wie dann der Regimentsarzt voranging, der Muschik ihm folgte, hinter ihm "in Haltung". Nicht ausgerechnet drei Schritte Distanz, sondern vielleicht nur anderthalb. Denn es war ein Soldat der Roten Armee.
Offiziere und Soldaten speisen in einer gemeinsamen Messe. Aber die militärische Form ist da. Die Rote Armee ist nicht gedrillt, aber diszipliniert. Sie wird gewiß nicht schikaniert, aber ausgebildet. Die Russen werfen nicht mit Pflastersteinen, sondern schießen. Ihre Karabiner sind von neunziger Konstruktion. Einige österreichische Mannlicher-Gewehre Modell 95 sah ich auch.
Die Gliederung der Sowjet-Armee
Die Sowjettruppen sind in Divisionen, Brigaden, Regimenter, Kompagnien und Sotnien geteilt, und nicht in Räuberbanden. Ihr Dienstreglement ist wahrscheinlich ein bißchen zusammengestrichen, aber es ist da. Die Russen marschieren, kurz, die Rote Armee ist keine Freibeuterschar, sondern eine Armee. Eine antimilitaristische Armee! O Witz der Weltgeschichte! Kreuzritter des zwanzigsten Jahrhunderts. Kreuzritter des Sozialismus. []
Die Ausrüstung der Freiwilligen-Truppen
Von vielen Seiten hört man, die Bolschewiken, die sich in der Nähe Ostpreußens zeigen, wären schlecht ausgerüstet. Das stimmt nicht. Es ist Täuschung. Die Bekleidung der Truppen nämlich, die jetzt Polen besetzen, ist nur nicht einheitlich. Es sind, wie gesagt, Freiwilligenregimenter. Sie kämpfen in denselben Uniformen, in denen sie eingerückt sind. Ich sah nur wenig Kavalleriepatrouillen in einheitlicher Uniform. Zumeist ist die Einheitlichkeit der Uniformierung vom Offizier abhängig. Es gibt Offiziere, die sich aus einem militärischen Stilgefühl heraus für die Uniformierung ihrer Truppen besonders interessieren. Das sind zumeist sehr bezeichnenderweise deutsche Offiziere und Unteroffiziere. Man macht sich hier und auch in Ostpreußen kaum eine Vorstellung davon, wieviel Deutsche in der russischen Armee sind. Die anderen Unterkommandanten haben weder Sinn dafür, noch Zeit dazu. Ich sah Soldaten in alten sackbraunen Kazapenmänteln, in Pelzmützen, in einfachen Kappen, dunkelblauen und weißen und einige sogar ohne Kopfbedeckung in schwarzen, russischen Blusenhemden. Die Distinktion der Offiziere ist, wenigstens bei der Kavallerie, meist irgendwo an der Bluse eine Schleife, in vielen Fällen sind Offiziere von der Mannschaft überhaupt nicht zu unterscheiden.
Die moralische Verfassung der Sowjet-Armee
Von einem demoralisierten Zustand der russischen Armee kann überhaupt nicht gesprochen werden. Die Zeit ist endgültig vorbei, da der Russe seine Stiefel verkaufte und barfuß lief. Es ist überhaupt unmöglich, einem russischen Soldaten etwas abzukaufen, denn er hat Geld genug, und Schnaps darf er beileibe nicht mehr trinken, als ihm zugeteilt wird. Essen kann er kaufen, und das tut er auch. Denn die Verpflegung klappt nicht ganz bei den Freiwilligenverbänden.
Jedenfalls macht der russische Soldat keine Geschäfte mehr. Ebensowenig wie er raucht oder plündert. Man traut seinen Augen nicht: ein polnischer Jude redet auf einen Kosaken ein. Der Jude möchte gern einen Ledergurt kaufen, und der Kosak - weder verkauft er, noch zieht er eine Nagaika, - sondern er lächelt, lächelt: Njet, batjuszka, njet
Der Antisemitismus ist offiziell nicht vorhanden. Antisemitische Auslassungen, Diskussionen, Streitigkeiten sind strafbar. Der jüdische Prozentsatz im russischen Heer ist, wie mir mein Gewährsmann erzählte, verhältnismäßig groß. Durchschnittlich sind ungefähr zwölf Juden in jeder Sotnie. []
Das Kulturniveau der Bolschewiken-Armee
Im allgemeinen ist das geistige Niveau des russischen Soldaten dasselbe geblieben, nur das moralische hat sich gehoben. Ich sprach mit mehreren Kosaken, die von Lenin nichts wußten. Dagegen ist Trotzki geradezu eine legendäre Persönlichkeit im russischen Heere. "Trotzki", sagte mir einer, "ist der größte Mann der Welt. Wenn er spricht, kann er alles von den Soldaten haben. Er spricht so laut, daß ihn zwei Regimenter, in weitem Karree aufgestellt, hören können. Trotzki ist größer als der Zar."
Zeitungen sind bei keinem russischen Soldaten vorzufinden. Von Zeit zu Zeit bekommen sie umsonst das sozialistische offizielle Blatt zugesen- det. Heeresberichte werden vom Kommandanten beim Appell verlesen. Politische Vorträge halten Studenten, Schriftsteller, Künstler, die eigens zu diesem Zweck die Truppen besuchen. Schreiben und lesen können immer noch die wenigsten Soldaten. Es wird politisiert. In den Schänken, wo allerdings kein Schnaps verabreicht wird, sitzen die Muschiks herum und lassen sich, gewöhnlich von einem jüdischen Kameraden, vorlesen.
Die Freiwilligenmeldungen
Man macht sich kaum einen Begriff davon, wie viele junge Leute sich freiwillig zur Roten Armee melden. Und das sind nicht nur Polen, Deserteure, die vorher geflüchtet waren und jetzt zurückkehren, sondern Deutsche, und zwar deutsche Arbeiter aus dem Rheinland. Mit jedem Schiff, das von Swinemünde nach Königsberg fährt, kommen ungefähr zwanzig rheinländische Arbeiter, die sich der Roten Armee zur Verfügung stellen wollen. Sie haben selten Glück. Sie sind ungeschickt genug, mit vorschriftsmäßig visierten Pässen über die Grenze kommen zu wollen, da aber die Interalliierte Kommission im Verein mit der deutschen Behörde überhaupt jeden Grenzverkehr verbietet, ist ein Überschreiten der Grenze nur auf Schleichwegen möglich. Die deutsche Postenkette an der Grenze ist sehr dicht, aber die polnischen Deserteure, die nach Rußland hinüberwollen, sind auf einen Trick gekommen. Sie lassen sich von jemandem begleiten, der im Lande bleiben will. Und während sie die Flucht wagen, stellt sich der simulierende Flüchtling hart an der Grenze auf und läßt sich von den Wachtposten so lange beobachten, bis er annehmen kann, daß sein Kamerad glücklich drüben ist.
Sie rüsten
So sieht die Rote Armee aus. Sie wird nicht nach Ostpreußen kommen. Sie kann nicht nach Ostpreußen kommen. Das Hakenkreuz in Ostpreußen ist viel zu stark. [] Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 5. August 1920
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