90 EM-Minuten in der Kirche: Traurig, aber schön
Beim Public Viewing in der Kirche wird das Finale zum Stummfilm und die spanischen Fußballer tänzeln in tiefem Moll an ihren Gegnern vorbei.
Fehlt nur der Trauermarsch, als nach 90 Minuten die Bilder von jubelnden Spaniern und bedröppelten deutschen Fußballspielern zu sehen sind. Ein Viewing anderer Art in der Emmaus-Kirche in Kreuzberg: Auf Großleinwand wird das Spiel gezeigt und vom Pianisten Stephan von Bothmer mit Orgelmusik begleitet. Das Finale als Stummfilm.
Schon die Ouvertüre offenbart, wie fußballaffin Pianist und Zuschauer sind. Dem Pianisten unterläuft der erste - und einzige - Lapsus beim Deutschlandlied. Erster Lacher. Die Sympathie hat er spielend gewonnen, das Publikum ist ja selber nicht textsicher. Sind das gute Omen? Spielbeginn: Die spanischen Spieler tänzeln im tiefen Moll an ihren Gegnern vorbei, dribbeln in Trillern im Alleingang übers Feld. Und die Deutschen? Deren Angriffe sind behäbig, das pathetische Dur erlahmend. Prompt kassieren sie das Tor. Es muss Abwechslung ins Spiel. Mit Mundharmonika. In der 36. Minute bei Ballacks Verletzung, hallt Gesang durch die Kirche, als würde ein alter Schamane klagend die guten Geister heraufbeschwören.
In der Pause erklärt von Bothmer, für ihn sei dies ein Experiment. "Es geht mir um die emotionale Funktion." Ihn interessiert, wie das Publikum auf die musikalischen Einlagen reagiert. Positiv. Eine Frau schwärmt, wie geistreich das Ereignis sei. Nur darum sei sie gekommen, sie schaut sonst nie Fußball. Die Atmosphäre in der Kirche ist gut. 200 Menschen sind da, groß und klein. Die Halbzeit ist um. Vorne unter dem Kreuz und dem Bildschirm hat man für jede Mannschaft drei große Kerzen aufgestellt. Eine brennt schon für die Spanier. Nicht mehr als drei Tore für beide Mannschaften? "Nein," sagt der Pfarrer Jörg Machel, "es darf keine Elfmeter geben, sonst müssen wir Teelichter aufbauen." Stattdessen wird verheißungsvoll eine Hoffnungskerze angezündet in der 51. Minute. Die Orgel spielt lustig weiter, den kleinen grünen Kaktus.
Aber sieht sie, was auf dem Feld passiert? Gleich zweimal greifen sich Spieler in den Schritt. Die Orgel hier in der Kirche will davon nichts wissen. Dann ist die Dernière vorbei, Spielende mit dramatischem Abgang. Standing Ovation für von Bothmer, der sich bedankt. Seine letzten Worte: "Feiern Sie noch schön!" Wir, feiern? Waren wir im falschen Film?
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