piwik no script img

86. Jahrestag PogromnachtEin kalter Tag im November

Zum Jahrestag erinnern Ber­li­ne­r*in­nen vielfach an die Novemberpogrome. Gleichzeitig ermittelt der Staatsschutz nach Angriffen auf jüdische Fußballer.

Kerzen und Rosen. Gedenken an den 9. November 1938 in Berlin Foto: Beata Zawrzel/imago

Berlin taz | Im Norden der Stadt hat die Initiative „Hermsdorf steht vereint“ am Samstag auf den Max-Beckmann-Platz zum Gedenken an den Mauerfall und „andere Ereignisse an diesem Tag“ geladen. Rund 100 Menschen stehen auf dem S-Bahn-Vorplatz, reiben sich die kalten Hände oder halten Banner hoch: Der VVN-BdA zeigt sich so, auch das „Bündnis Reinickendorf gegen Rechts“. Die „Omas gegen Rechts“ erkennt man an ihren Stickern.

Es beginnt mit dem 9. November, dem Tag des Mauerfalls. In dieser Hinsicht sei das Datum ein „Tag der Menschlichkeit und des Mutes“, sagt Initiator Dirk S., ein Tag, der „an den Wert der Freiheit“ erinnere, „die nicht selbstverständlich ist“. Seinen Nachnamen will S. nicht in der Zeitung lesen: Immer wieder werde er angefeindet, seit er im Februar die erste Lichterkette in Hermsdorf organisierte, als überall in Deutschland Menschen gegen „Remigrationspläne“ der AfD auf die Straße gingen.

Heute ist die siebte Veranstaltung der Initiative, und im Netz habe man ihn beschimpft, so S., dass er den Tag „verunglimpfen“ würde, weil es nicht nur um den Mauerfall gehen soll.

Peter Friedrich von der Initative spricht in seiner Rede von einem weniger bekannten 9. November: 1848 wurde an diesem Tag in Wien Robert Blum hingerichtet, ein Vertreter der Frankfurter Nationalversammlung. Das Datum stehe somit „auch für Scheitern der damaligen Demokratiebewegung“, so Friedrich. Ganz anders der 9. November 1918: der Tag, an dem in Berlin gleich zweimal die Republik ausgerufen wurde. Am Ende dieses Tages, so Friedrich, „gab es wieder Hoffnung auf demokratische Veränderungen“.

Ermittlungen nach Fußballspiel in Neukölln

Der Staatsschutz ermittelt zu mutmaßlichen antisemitischen Beschimpfungen und Bedrohungen gegen jüdische Jugend-Fußballer in Berlin. Wie die Polizei am Sonntag mitteilte, habe sie Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch, Volksverhetzung und Beleidigung von Amts wegen eingeleitet. Der Staatsschutz der Polizei ist für Straftaten mit mutmaßlich politischem oder extremistischem Hintergrund zuständig. Die Vorfälle sollen sich nach dem Spiel einer Jugendmannschaft des jüdischen Vereins TuS Makkabi Berlin beim DJK Schwarz-Weiß Neukölln am Donnerstag ereignet haben. Der Mitteilung der Polizei zufolge soll eine Gruppe Unbekannter die Spieler von Makkabi beleidigt und sich ihnen gegenüber antisemitisch geäußert haben. Zudem soll es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen sein, bei der die Unbekannten mit Stöcken und Messern bewaffnet gewesen sein sollen. Die Polizei sei am Tag selbst nicht alarmiert worden.

Innensenatorin Iris Spranger (SPD) forderte daraufhin harte Konsequenzen. Mit Blick auf den Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 1938 sagte sie: „Solche Angriffe sind auch Angriffe auf unser friedliches Zusammenleben und auf die Vielfalt, die unsere Stadt so stark macht." Wer Menschen attackiere, müsse mit der vollen Härte des Rechtsstaats rechnen. Bei allen Spielen der Berliner Makkabi-Vereinsmannschaften sollte demnach am Wochenende die Polizei präsent sein. (dpa)

Viele singen mit

Es wird gesungen. Frauen vom Chor der Kirche Maria Gnaden haben Textblätter verteilt und stimmen „Wehrt euch, leistet Widerstand“ an, den neuen Demo-Klassiker der „Omas“. Viele singen mit, wie schon bei „Die Gedanken sind frei“.

Dann wird des 9. Novembers 1938 gedacht. Waltraud Reichmuth hat die Geschichte der Hermsdorfer Judenverfolgung recherchiert. „Mich hat sehr berührt, was ich alles gar nicht weiß, obwohl ich schon so lange hier lebe“, sagt sie der taz. Auf der Kundgebung berichtet sie unter anderem vom jüdischen Wäschegeschaft am Fellbacher Platz, das von SA-Leuten zerstört wurde. Heute ist dort eine Buchhandlung.

Ausführlich geht Reichmuth auf die Geschichte des Falkentaler Steigs 16 ein. Das dortige Haus war zuerst ein Jüdisches Kinder- und Jugendheim, 1935 bekam es einen Betsaal der Jüdischem Gemeinde Berlin. In der Pogromnacht wurde er zerstört. Zwischen 1939 und 1943 lebten in dem Haus 27 jüdische Menschen, zehn mussten zwangsweise dort einziehen, 16 wurden von dort deportiert. Eine Gedenkplatte am Haus erinnert daran, neun Stolpersteine davor gedenken der Ermordeten.

Am Ende verlesen die Veranstalter und ein paar Zuschauer die Namen und Daten aller 29 Stolpersteine, die es in Hermsdorf gibt. Es ist ein bewegender Moment, wie man in den Gesichtern der Umstehenden lesen kann. Anschließend geht eine kleine Gruppe zum Falkentaler Steig, um die Stolpersteine zu putzen und Blumen niederzulegen. Aber das ist nicht nötig: Es war schon jemand da. Der Messing glänzt, um die Steine herum liegen weiße Rosen. (sum)

„Nie so jüdisch gefühlt“

Auch auf dem Kreuzberger Oranienplatz haben sich am Samstagnachmittag rund 200 Menschen versammelt, um den Opfern der Novemberpogrome von 1938 und aller Opfer staatlich sanktionierter Gewalt zu gedenken. Dick eingepackt stehen sie um die flackernden Kerzen am Denkmal für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt, wärmen sich mit Tee und lauschen andächtig traditioneller Zupfmusik.

Die Veranstaltung soll eine andere Form des Gedenkens an die Pogrome ermöglichen, als es in der deutschen Erinnerungskultur, die als „selektiv und eigennützig“ kritisiert wird, üblich sei. Im Aufruf heißt es, die Veranstaltungen zum Gedenken an den Terror des Nationalsozialismus seien „zunehmend vom deutschen Staat vereinnahmt und als Waffe eingesetzt“ worden. Die Novemberpogrome hätten „den kommenden Genozid bereits erahnen“ lassen.

Aufgerufen hat die Initiative Jewish Bund Berlin, die sich im Nahost-Konflikt solidarisch mit Palästina zeigt. Kaum jemand erscheint am Samstag ohne Kufiya. Das Wassermelonen-Symbol für die Solidarität mit Palästina ist auf Pins, Taschen und Pullovern allgegenwärtig.

„Im Namen unserer Vorfahren und der Holocaust Erinnerung wird ein genozidaler Krieg verübt“, sagt eine Rednerin von Jewish Bund Berlin. „Wir nehmen nicht hin, dass das Leid unserer Familien immer gegen das Leid unserer palästinensischen Geschwister ausgespielt wird.“ Ein Migrantifa-Redner ergänzt: „Noch nie habe ich mich so jüdisch gefühlt, wie in den Armen meiner palästinensischen Geschwister, wenn wir rufen: Nie wieder!“

Im Fokus der Redebeiträge stehen nicht die Novemberpogrome, sondern eine Kritik an Israels „genozidaler Kriegsführung“ sowie an der deutschen Unterstützung, die im Kontext der „German guilt“ infolge des Holocausts gesehen wird. Es sprechen Initiativen und Gruppen, wie der Verein „Jüdische Stimme“ und „Palästina Spricht“, denen Verharmlosung in Bezug auf den Terror der Hamas vorgeworfen wird.

Ziel der Veranstaltung ist es laut In­itia­to­r*in­nen, durch gemeinsames Trauern und Erinnern die Verbindung miteinander zu vertiefen. Denn: „In Trauer liegt auch immer Hoffnung.“ (ls)

„Es sind kalte Zeiten“

Ein eisiger Wind weht über den kleinen Platz. Rund 40 Menschen sind am Samstagmittag zur Gedenkveranstaltung in die Lindenstraße 65 in Kreuzberg gekommen. Der Schocken-Verlag war dort ansässig, den der Unternehmer Salman Schocken 1931 hier im Zeitungsviertel gründete.

Das Gebäude gebe es nicht mehr, sagt Jochen Mindak. Der Architekt und Denkmalpfleger, der über die Familie Schocken geforscht hat, gehört heute zu den Rednern. „Wir stehen hier nun in der Nähe des Ortes“. Das Vorderhaus sei zerbombt, der Stadtgrundriss beim Wiederaufbau verändert worden. 249 Titel zu jüdischen Themen oder von jüdischen Autoren, darunter auch Franz Kafka, habe der Verlag bis zur Schließung Ende 1938 herausgegeben. Das Ziel sei gewesen, den deutschen Juden ihre kulturellen Wurzeln nahezubringen.

In der Pogromnacht sei der im Hinterhof gelegene Verlag den Zerstörungen des Mobs entgangen, zitiert Mindak aus dem Bericht des damaligen Verlagsleiters. In den Tagen danach habe das Büro als Nachrichtenzentrale für jüdische Menschen fungiert, die aus Angst ihre Wohnungen mieden.

Eine Böe fegt das mit einer Schleife des Bezirks versehene Blumengebinde vom Sockel, als Clara Herrmann, grüne Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg das Wort ergreift. Nicht nur der Wind sei eisig, sagt Herrmann, „es sind auch sehr kalte Zeiten“. Sie meint damit die globalen politischen Entwicklungen und die zunehmenden Anfeindungen und Angriffe, „die unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erleben müssen“. Viele von ihnen hätten Angst. Der Rechtsruck und der zunehmende Hass seien schockierend, Parallelen zu den 1930er Jahren drängten sich auf.

An diesem Gedenktag gelte es deutlich zu machen: „Nie wieder ist jetzt.“ Die Medien seien verbannt und verbrannt, Journalisten umgebracht worden. „Eine starke Säule unsere Demokratie“, schließt Herrmann, „ist die Pressefreiheit.“ Und: Wenn sich alle den eisigen Zeiten entgegenstemmten, „wird es hoffentlich auch wieder wärmer“. (plu)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!