80 Jahre Kriegsende in Berlin: Gedenken mit Fallstricken
80 Jahre nach der deutschen Kapitulation wird in der Stadt an das Kriegsende gedacht: im Roten Rathaus, im Treptower Park und auf einem Fahrradkorso.
Die Feierstunde beginnt mit mit einem Video von der „Befreiungsrede“, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 hielt – der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) nimmt darauf Bezug. Gerade in diesen Zeiten sei es wichtig, Demokratie und Freiheit zu verteidigen. „Es braucht Zeit und Raum, der Geschichte zu gedenken, um diese nicht zu wiederholen.“ Darum sei der 8. Mai in Berlin auch zum einmaligen Feiertag erklärt worden. „Es ist unsere Verantwortung, dass wir nicht vergessen, dass Geschichte Geschichte bleibt“, appelliert Wegner.
Dann kommt die Ehrenbürgerin Margot Friedländer zu Wort. Sie war nach Kriegsende in die USA emigriert, seit 2010 lebt sie wieder in Berlin. Auch im hohen Alter leistet sie unermüdliche Erinnerungsarbeit: besucht Schulen, hält Lesungen, spricht über ihr Überleben. An diesem Mittag liest sie einen Auszug aus „Versuche, dein Leben zu machen“. Darin schildert sie, wie sie das Ende des Kriegs im KZ Theresienstadt erlebte. Am 5. Mai 1945 verließen die Kommandanten und SS-Männer das Lager – so sah sie es durchs Fenster ihrer Baracke, aus dem zu sehen eigentlich verboten war. Wenig später stand auch das Tor offen.
Aber: „Wir trauten dem Frieden nicht. Es herrschte eine seltsame Stimmung, niemand freute sich, niemand jubelte. Wir verrichteten unsere Arbeit wie an jedem anderen Tag“, liest Friedländer. Die Stimmung im Saal ist angespannt. Ihrer rhythmischen Erzählstimme ist anzumerken, dass ihr das Vorlesen vertraut ist. „Wie fühlt es sich an, befreit zu sein?“, fragt sie in den Raum.
Sie beschreibt das Gefühl von damals: unwirklich. „Träume ich? Kann es wahr sein, dass ich überlebt habe?“ Sie wusste nicht, wohin, also blieb sie am Tor stehen: „Vor mir lag das Nichts, so ging es allen. Wir waren die Übriggebliebenen.“
Mit dem Gebinde in die Gruft
Bereits am frühen Donnerstagmorgen pilgern Familien mit Nelken und Rosen zu den Gräberfeldern im Treptower Park. 7.000 sowjetische Soldaten, die bei der Schlacht um Berlin ihr Leben ließen, sind hier begraben, neben Russen auch Tataren, Ukrainer, Armenier oder Kirgisen.
Der „Freundeskreis der Ukraine“ hat vor den Stufen zum Mahnmal, wo die Botschaften vieler Staaten sonst ihre Blumengebinde ablegen, ein gelb-blaues Gebinde mit der Inschrift „Gegen Invasoren – gestern – heute – morgen“ aufgestellt. Das verunsichert die Abordnung der aserbaidschanischen Botschaft. Sollen sie ihren Kranz danebenstellen? Sie entscheiden sich, ihn in die Gruft am Mahnmal mitzunehmen.
Die ukrainischen Symbole, die anders als russische und sowjetische Fahnen erlaubt sind, sorgen für Diskussionen. „Total unpassend für diesen Tag“, findet eine ältere Frau. Ein Ukrainefreund entgegnet, dass in der Roten Armee auch Ukrainer für die Befreiung Berlins gekämpft hätten. Er hat ein Plakat mit einer Familienbiografie vorbereitet: Fjodor Karpenko kämpfte in der Roten Armee und ritzte in die Reichstagswand den noch erhaltenen Satz „Karpenko war hier“. Seine Frau und sein Sohn entkamen 1942 nur durch Zufall einem Erschießungskommando der Wehrmacht bei Saporischschja. Karpenkos Enkel kämpft heute gegen Putin, seine Urenkelin kämpft ums Überleben.
Eine Frau sieht das mit der Kontinuität genau anders herum. Sie entgegnet auf Russisch: „Heute müssen wir die ukrainischen Faschisten verdrängen.“ Kreml-Ideologie pur.
Am Mittag thematisiert die VVN-BdA auf einer Bühne Facetten von Faschismus und Befreiung. Der Ernst-Busch-Chor singt das Lied der „Moorsoldaten“, der Nachfahre eines Kommunisten aus dem sowjetischen Exil erinnert an Exilanten, die in der Sowjetunion interniert waren. Der Soziologe Jochen Fleischhacker erzählt, wie sein jüdischer Vater in London den 8. Mai 1945 erlebte: als Freudentag.
Nebenan präsentiert die russische Oppositionsgruppe Demokrati-Ja eine Ausstellung zu Kriegen der Sowjetunion und Russlands, die keine Befreiungskriege waren: vom Sowjetisch-Finnischen Krieg 1939/40 über Afghanistan bis zur Ukraine. Schockierend sind Bilder von Krieg spielenden Kindergartenkindern aus dem heutigen Russland: Auf einem Spielzeugpanzer steht in russischer Sprache „Nach Berlin“.
Die prorussische Rockerformation Nachtwölfe wird laut Polizei erst am Freitag erwartet. Viel spricht dafür, dass es sich dabei wie in den Vorjahren nur um Ableger der Rockerformation aus Mitteleuropa handelt.
Erinnerung an Bersarin
Vom Flughafen Tempelhof kommend schlängelt sich der Fahrradkonvoi durch Neukölln, Friedrichshain und Lichtenberg bis zum Museum in Karlshorst – dem Gebäude, in dem sich vor 80 Jahren das sowjetische Hauptquartier befand und deutsche Militärs die Kapitulationserklärung unterschrieben.
Das Dokument war damals am Flughafen Tempelhof in Begleitung der alliierten Siegermächte eingetroffen und wurde von dort nach Karlshorst gebracht. Der über 100-köpfige Konvoi folgt dieser Route, so gut es geht. Die Szenerie damals müsse man sich so vorstellen, dass überall Schuttberge lagen und Straßen zum Teil noch von Barrikaden versperrt waren, erklären die Organisatoren.
Zu den wenigen Brücken, die erhalten geblieben waren und die der Konvoi passiert, gehörten die Thielenbrücke über den Landwehrkanal und die Oberbaumbrücke über die Spree. Deren Türme, das zeigen Fotos, waren seinerzeit zerstört.
In einem Park an der Lichtenberger Alfred-Kowalke-Straße gibt es eine Rast. Zwei Mitarbeiter des Museums Lichtenberg haben hier etwas aufgebaut: Fotos auf Sonnensegeln und die Klanginstallation „Nachhall 8. Mai“. Anlässlich des 80. Jahrestags wurden Interviews mit Anwohnern geführt. Eine Frau benennt darin die Tatsache, dass viele Frauen von Rotarmisten vergewaltigt worden seien. Gleichzeitig äußert sie ihr Unverständnis darüber, dass die Gedenkfeiern „bei allen Auseinandersetzungen in der Geopolitik“ nicht gemeinsam mit den Russen begangen werden dürften.
Ankunft des Konvois im Museum Karlshorst: Ein Großaufgebot der Polizei hat sich vor dem Gebäude postiert, das nur mit der ukrainischen Fahne beflaggt ist. Vier Frauen zwischen 75 und 59 sitzen mit Nelken in der Hand auf einem Mäuerchen. Entweder man hätte alle Fahnen der Sowjetrepubliken aufhängen müssen oder keine, empören sie sich. Ihre Blumen wollen sie an dem russischen Panzer niederlegen, der im Innenhof steht.
Im Museum herrscht Andrang. Insbesondere der Saal, in dem die Kapitulation unterzeichnet wurde, ist belagert. So wie vor 80 Jahren haben die Tische grüne Tischdecken, darauf stehen Karaffen aus Kristall. An der Wand hängen die Fahnen von Großbritannien, Frankreich, den USA und der Sowjetunion.
Auf seinem Weg hat der Fahrradkorso die Gedenkplatte für den ersten sowjetischen Stadtkommandanten von Berlin, Nikolai Bersarin, passiert. Bersarin habe unverzüglich mit dem Aufbau des zivilen Lebens in Berlin begonnen, steht im Flyer des Museums. Unterstützt worden sei er dabei von der „Gruppe Ulbricht“. Walter Ulbricht, später DDR-Staatsratsvorsitzender, gehörte zu den ersten deutschen Kommunisten, die aus dem sowjetischen Exil in Berlin eintrafen.
Dort, wo die Gedenktafel steht, war Bersarin im Juni 1945 auf dem Motorrad mit einem Militärlaster der Roten Armee zusammengeknallt und tödlich verunglückt. Wie groß seine Beliebtheit in Berlin war, zeigt die Tatsache, dass die Entscheidung, ihm nach der Wende die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen, nach massiven Protesten kassiert werden musste. Nach wie vor gibt es in Friedrichshain einen Bersarinplatz. „Er war angezogen wie ein Biker und liebte Motorräder“, sagt Svetlana Boltovska vom Museum Karlshorst vor Ort. „Er ist gestorben wie James Dean“.
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