70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Die Suche nach einer neuen Heimat
Walter Frankenstein hat als Jude versteckt in Berlin überlebt. Nach dem Krieg begann für ihn eine monatelange Odyssee von Deutschland nach Palästina.
Im Juni wird Walter Frankenstein 91 Jahre alt. Aber noch immer hält er Vorträge und trifft sich mit Schulklassen. „Denkt selbst und helft Menschen in Not“, sagt der in Berlin aufgewachsene Jude, der die Nazi-Verfolgung mit seiner Familie im Untergrund überlebt hat.
Doch nicht nur die Zeit als „U-Boot“, in der Frankenstein, seine Frau Leonie und die beiden Kleinkinder über zwei Jahre in Verstecken den Deportationen in den Tod trotzten, will Frankenstein den heutigen Jugendlichen nahebringen. Auch nach der Befreiung verlief sein Leben alles andere als geordnet.
Es war der 27. Mai, als die Familie in einem Bunker der Berliner-U-Bahn ihre ganz persönliche Befreiung erlebte. „Als wir den ersten sowjetischen Soldaten sahen, habe ich ihn umarmt“, erinnert sich Walter Frankenstein.
Die Familie wollte Deutschland nach der Befreiung so schnell wie möglich verlassen. „Nach der Befreiung wurde uns rasch klar, dass Hitler und die Nazis nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden waren. Wir hatten Erlebnisse, die uns zeigten, dass wir in diesem Deutschland nicht leben konnten“, sagt Frankenstein heute.
Illegale Weiterfahrt nach Frankreich
Ihr Ziel war Palästina, damals unter britischer Kontrolle, wo zwei Brüder Walter Frankenstein lebten – die einzigen Verwandten, die dem Holocaust entkommen waren. Doch die Briten hatten die Einwanderung stark begrenzt – nur 1.500 Juden durften monatlich einreisen, obwohl Hunderttausende Überlebende dort einen Neuanfang wagen wollten.
Jahrgang 1924, wuchs im westpreußischen Flatow und in Berlin auf. Nach dem Krieg arbeitete er in Israel als Maurer, später ließ er sich in Schweden zum Ingenieur ausbilden. Er lebt in Stockholm. Über das Leben seiner Familie berichtet das Buch „Nicht mit uns“ von Klaus Hillenbrand (Jüdischer Verlag, 2008).
Frankensteins Frau Leoni und die Kinder Uri und Michael durften Ende 1945 per Schiff legal einreisen. Doch für Walter begann eine Odyssee. Die ersten Monate des Jahres 1946 verbrachte er in einem oberbayerischen Dorf, wo überlebende Juden sich auf ihre Zukunft in einem Kibbuz vorbereiteten. Danach, Mitte 1946, ging es in einem Konvoi illegal nach Frankreich.
In Marseille baute Frankenstein zusammen mit Helfern der jüdischen Fluchtorganisation Bricha Schiffe für den Transport möglichst vieler Menschen nach Palästina um. Erst im Oktober kam er selbst an Bord eines dieser Boote: „Das war die 'Latrun'. Sie war für 75 Passagiere gebaut. Wir aber waren 1.252 Männer, Frauen und Kinder“, berichtet er.
Vor 70 Jahren, am 8. Mai 1945, kapitulierte Nazi-Deutschland vor den Allierten.
Auf 15 Sonderseiten lässt die taz am 8. Mai 2015 die Befreiten zu Wort kommen: versteckt überlebende Juden, griechische Partisanen, aus Deutschland Geflüchtete, die als alliierte Soldaten in ihre alte Heimat zurückkehrten, sowjetische Zwangsarbeiter und viele andere.
Neben dem Rückblick auf den 8. Mai 1945 geht es auch um die Bedeutung dieses Tages für die Gegenwart. Eine junge Frau aus Israel spricht über ihr Leben in Berlin, deutsche und polnische Schüler begegnen sich in Danzig und die Microphone Mafia rappt auf italienisch und türkisch mit der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano.
Das Schiff wurde unterwegs von der britischen Marine entdeckt und geentert. Statt nach Palästina kamen die Passagiere nach Zypern, dort wurden sie als illegale Einwanderer interniert. „Wir lebten in britischen Tropenzelten“, erinnert sich Frankenstein.
„Was diese Leute früher gemacht haben“
Erst im Mai 1947 erreichte er Palästina, geriet dort aber zunächst erneut in Haft. Im Juli zog er endlich zu seiner Familie südlich von Haifa. Ein Jahr später musste Frankenstein als Soldat in den israelischen Unabhängigkeitskrieg ziehen.
Heute lebt er in Schweden. Er kommt gerne zu Besuch nach Deutschland. Nur um gleichaltrige Deutsche macht Frankenstein einen großen Bogen. „Man konnte ja nicht wissen, was diese Leute früher gemacht haben“, sagt er.
Das vollständige Interview mit Walter Frankenstein lesen Sie in der taz am 8. Mai 2015 zum 70. Jahrestag der Befreiung.
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