70 Jahre Eisenhüttenstadt: Wo der Stahl brüchig wird
Stalinstadt war bei der Gründung ihr Name. Heute gilt Eisenhüttenstadt als vorbildlich saniert – und trotzdem ergreifen die Einwohner die Flucht.
D as Gemälde, das seine Vorgängerin aufgehängt hat, hat der Bürgermeister nicht übernommen. Es zeigt ein Mädchen, das seinen kleineren Bruder im Arm hat. Versonnen schauen beide vom Rosenhügel herab auf das, was sich im Tal tut. Aus den Hochöfen steigt Qualm, davor stehen die ersten Häuser der Wohnstadt, eingebettet in eine liebliche märkische Landschaft. „Blick auf Stalinstadt“ hat der Maler Walter Womacka sein 1958 entstandenes Gemälde genannt, das seit 2012 wieder im Rathaus von Eisenhüttenstadt hing.
Bürgermeister Frank Balzer sagt: „Das Gemälde hängt jetzt im Museum.“ Im Besprechungsraum des Rathauses, im Stil des sozialistischen Klassizismus als „Haus der Parteien und Massenorganisationen“ erbaut, hängt nun ein Luftbild von Eisenhüttenstadt, wie Stalinstadt seit 1961 heißt. SPD-Mann Balzer, der das Amt 2018 von seiner linken Vorgängerin übernommen hat, mag es nicht so sehr, wenn von seiner Stadt als „sozialistischer Planstadt“ gesprochen wird. Er richtet den Blick lieber auf die Gegenwart. „Planstadt, das klingt ja so, als wollte man hier einen Ossipark aufbauen. Wir wollen aber auch Menschen haben, die sich hier erholen wollen, Radtouristen zum Beispiel.“
Frank Balzer, Bürgermeister
Natürlich gibt es auch für Frank Balzer etwas zu feiern, wenn am 18. August an den symbolischen Axthieb erinnert wird, mit dem vor siebzig Jahren die Geschichte von Stadt und Werk begann. Für den hochgewachsenen, fast schlaksigen 56-Jährigen ist es vor allem die Geschichte von EKO, Eisenhüttenkombinat Ost, dem größten Stahlwerk der DDR, heute ein Standort des Stahlriesen ArcelorMittal. Balzer hat selbst 35 Jahre bei EKO gearbeitet, er hat als Betriebsrat nach der Wende von 1989 gegen die Zerschlagung des Werks gekämpft und den Übergang in die Marktwirtschaft erlebt. „Eisenhüttenstadt ist mit dem Stahlwerk gewachsen und mit ihm geschrumpft“, sagt er rückblickend. „Stadt und Werk sind eine Symbiose eingegangen.“
Eisenhüttenstadt. Schon der Name polarisiert. Für die einen ist es ein Stück gebaute Utopie, in der die Architekturgeschichte der frühen DDR wie in einem lebendigen Museum begehbar ist. Die Stadt sei wie das „Bilderbuch einer sozialistischen Idealstadt, ein Gesamtkunstwerk“, schwärmt Brandenburgs Landeskonservator Thomas Drachenberg: „Sie können noch heute in Eisenhüttenstadt den Traum vom Sozialismus erleben.“ Städtebau und Architektur zeigten zugleich, wie die DDR gedacht habe – und wie es der DDR tatsächlich ging. Nach 1989 sei die Stadt vorbildlich saniert worden, betont Drachenberg: „Das ist eine großartige Leistung aller Beteiligten, vor allem in der Stadt selber.“
Drachenberg vertritt, was Frank Balzer die Außenwahrnehmung nennt. Oder den Stolz der Aufbaugeneration: „Bis zu meiner Elterngeneration gab es dieses Idealbild, die haben das noch gelebt. Meine Generation hat das nicht mehr getan.“ Für Balzer bedeutet Sozialismus Reiseverbot und Einschränkung der Meinungsfreiheit. Der Sicht seiner Großeltern und Eltern stellt er die Perspektive der Gegenwart entgegen: „Meine Kinder sind ja schon die Nachwendegeneration. Und die jungen Leute von heute sagen: Was soll denn der Mist hier, ich will Leuchtreklame haben, ich will Halligalli haben.“
Dass Eisenhüttenstadt so zerrissen ist zwischen dem faszinierten Blick von außen und der Unzufriedenheit vieler Bewohnerinnen und Bewohner hat mit der Zeit nach der Wende und einem beispiellosen Bedeutungsverlust zu tun. 1990 besaß der Ort südlich von Frankfurt (Oder) 54.000 Einwohner, heute sind es nur noch knapp 24.000. Keine Stadt in Brandenburg ist so schnell geschrumpft wie Eisenhüttenstadt, die Leerstandsquote liegt bei 15 Prozent.
„Meine Eltern sind nach der Wende dreimal umgezogen, weil ihre Wohnungen abgerissen wurden“, erinnert sich Martin Maleschka. Maleschka, Glatze, Vollbart, ist 1982 geboren und im Wohnkomplex VII aufgewachsen, einem Plattenbauviertel der achtziger Jahre, das inzwischen zu einer grüne Wiese mutiert ist, die darauf wartet, mit Einfamilienhauswohnungen bebaut zu werden. „Ich dachte nach der Wende immer, ich komme aus einer Stadt, die im Begriff ist, sich selbst aufzulösen.“
Martin Maleschka, Fotograf
Während seines Architekturstudiums in Cottbus kehrte Maleschka als Fotograf nach Eisenhüttenstadt zurück und hielt den Abriss mit seiner Kamera fest – eine sehr persönliche Art der Trauerarbeit. „Da ist ein Stück Heimat verloren gegangen“, sagt er, dessen Stadtführungen durch Eisenhüttenstadt auf zunehmendes Interesse stoßen. Dennoch findet Maleschka es richtig, dass die Wohnkomplexe aus den Siebzigern und Achtzigern verschwanden, denn nur so konnte die Kernstadt überhaupt gerettet werden. Für 30.000 Einwohner hatte das Kollektiv um Kurt Leucht die Wohnkomplexe I bis IV um die Lindenallee herum geplant, die direkt vom Rathaus zum Stahlwerk führt. Heute würden alle Bewohnerinnen und Bewohner in diesen vier Wohnkomplexen Platz finden.
Dass viele Hüttenstädter, wie sie sich selbst nennen, mit gemischten Gefühlen auf ihre Stadt schauen, hat für Florentine Nadolni auch mit dieser Verlusterfahrung zu tun. „Die erste Generation ist sich des Besonderen sehr bewusst. Was schafft mehr an Identifikation mit einer Stadt, als dass man sie selbst gebaut hat?“, sagt die 38-jährige Leiterin des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, das seinen Sitz in einem ehemaligen Kindergarten hat. Im Treppenhaus ist ein farbiges Bleiglasfenster von Walter Womacka zu sehen, es zeigt in szenischen Darstellungen spielende Kinder. Eisenhüttenstadt war in seiner Gründerzeit eine junge Stadt, mit Bewohnern, die aus allen Teilen der DDR gekommen sind.
„Heute“, stellt Nadolni fest, „fragen sich viele, ob mit der DDR auch Eisenhüttenstadt gescheitert ist. Also ist man vorsichtig, sich allzu stark mit der Stadt zu identifizieren. Man will nicht gleichgesetzt werden mit DDR und sozialistischem Aufbau. Deshalb identifiziert man sich lieber mit der schönen Umgebung, zum Beispiel mit dem Schlaubetal.“
Dringend gesucht: frischer Wind
Junge Menschen wie Martin Maleschka oder Florentine Nadolni sind in Eisenhüttenstadt ein seltener Anblick. Das Durchschnittsalter beträgt 50 Jahre, in Berlin ist die Stadtbevölkerung mit 41 Jahren fast ein Jahrzehnt jünger. 35 Prozent der verbliebenen Bewohner sind älter als sechzig. Wer abends ausgehen will, hat schlechte Karten. „Hütte“ brennt dann nicht, „Hütte“ schläft.
Eisenhüttenstadt, da sind sich die meisten Bewohner einig, braucht dringend Zuzug, also frischen Wind von außen. „Ich würde den Leuten von außerhalb gerne sagen: Kommen Sie her, hier ist alles da“, sagt Bürgermeister Frank Balzer. „Hier ist entschleunigtes Leben. Hier hat man eine grüne Lunge rundum. Hier ist die Hektik nicht ganz so doll.“ In der Schublade hat Balzer bereits Pläne für eine Zuzugskampagne. „Wir haben die Wohnungen, die die Tesla-Mitarbeiter brauchen.“ Der US-Autobauer investiert gerade am Berliner Stadtrand in einen großes neues Werk für seine Elektrofahrzeuge.
Auch Anne Krapp will, dass frischer Wind in die Stadt kommt. „Ich würde es gut finden, wenn die Stadt mehr Werbung für sich machen würde“, sagt die 39-Jährige, die den Club Marchwitza leitet. „Wenn ich höre, dass sie in Berlin Wohnungen, Kitaplätze oder Schulplätze suchen, dann denke ich: Alles, an was es in Berlin mangelt, das haben wir hier im Überfluss. Vielleicht sollte man für Eisenhüttenstadt stärker in Berlin werben.“
Axtschlag Am 18. August 1950 wird mit einem symbolischen Axthieb der Bau des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) begonnen. Das Werk liegt nahe der Stadt Fürstenberg an der Grenze zu Polen. Gebaut wird es, weil nach dem Zweiten Weltkrieg die Zentren der Stahlproduktion im Ruhrgebiet und in Polen liegen.
Stalinstadt Am 23. September 1950 wird mit dem Bau einer Barackenstadt begonnen, die noch keinen Namen hat. Die Wohnstadt, wie sie bald heißt, entsteht nach den Plänen von Kurt Leucht. Ursprünglich sollte sie 1953 nach Karl Marx benannt werden. Nach Stalins Tod bekommt sie aber den Namen Stalinstadt.
Eisenhüttenstadt 1961 sind die ersten vier Wohnkomplexe der Kernstadt fertiggestellt. Die Stadt zählt 25.000 Einwohner. Nach der Eingemeindung der alten Bergbaugemeinde Schönfließ und Fürstenberg an der Oder wird Stalinstadt im November, drei Monate nach dem Bau der Mauer, in Eisenhüttenstadt umbenannt.
Magistrale Die Lindenallee als Magistrale wird 1953 fertiggestellt. Sie führt vom Werkstor des Kombinats zum Zentralen Platz, der allerdings nie vollendet wird.
Stahlwerk Der erste von sechs Hochöfen wird 1951 in Betrieb genommen. 1968 geht das Kaltwalzwerk für Flachstahl ans Netz. Zur Wende arbeiten bei EKO 10.000 Menschen. Die Stadt hatte 54.000 Bewohnerinnen und Bewohner. Heute sind es noch 24.000. Im Stahlwerk sind 2.500 Menschen beschäftigt. (wera)
Anne Krapp hat schon als Jugendliche den Club besucht. Nach ihrem Lehramtsstudium in Rostock ist sie nach Eisenhüttenstadt zurückgekehrt. „Es ergab sich damals, dass es eine Stelle für offene Kinder- und Jugendarbeit gab, die hab’ ich übernommen, und jetzt leite ich das Haus.“ Krapp weiß um die dramatische Lage in Eisenhüttenstadt. „Zuletzt hat der Rückgang der Einwohner noch zugenommen“, sagt sie. „Das ist jetzt so ein Sprung. Lange Zeit hat man um die 30.000er-Marke gekämpft.“
Als Tom Hanks von „Iron Hut City“ sprach
Werben für Eisenhüttenstadt, aber wie? Vor fast zehn Jahren war die Stadt tatsächlich einmal in aller Munde. Der amerikanische Schauspieler Tom Hanks hatte 2011 während der Dreharbeiten zu einem Film in Berlin einen Abstecher nach Eisenhüttenstadt gemacht und sie danach in der Talksendung von David Letterman vor einem Millionenpublikum liebevoll Iron Hut City genannt. Auf die Frage, was das sei, Iron Hut City, hatte Hanks geantwortet, das sei eine von den Kommunisten gebaute Modellstadt, die den Menschen „the great and wonderful life“ im Sozialismus vor Augen führen sollte. „Ein wunderbarer Ort“, schwärmte Hanks, der drei Jahre später noch einmal nach Iron Hut City zurückkehrte und dabei auch das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR besuchte.
„Das mit Tom Hanks war damals extrem wichtig“, sagt Leiterin Florentine Nadolni heute. „Wenn wir selbst sagen, Eisenhüttenstadt ist großartig und spannend, dann ist das eine interessante Feststellung. Wenn es aber Tom Hanks tut, also ein Amerikaner, der selbst keinen Bezug zur DDR hatte, dann hilft das, dass solchen Aussagen geglaubt wird.“
Um glaubwürdig für Eisenhüttenstadt zu werben, müssten Stadt und Stadtverordnete, Tourismuswerber und Stadtgesellschaft aber an einem Strang ziehen. Wie im benachbarten Frankfurt (Oder) zum Beispiel, wo es Bürgermeister René Wilke gelungen ist, mit viel Engagement und Transparenz eine depressive Grundstimmung in eine Aufbruchstimmung umzuwandeln. Doch in Eisenhüttenstadt ist alles beim Alten geblieben. Knappe Kassen und Mutlosigkeit scheinen sich gegenseitig zu bedingen. Auf Wilkes Engagement angesprochen, sagt Balzer: „Wir haben die Bürgersprechstunden.“
Werben für die Stadt will auch Karl Döring. „Eisenhüttenstadt hat mehr Aufmerksamkeit verdient“, sagt Döring. „Warum bieten wir nicht ein touristisches Paket an mit der sozialistischen Planstadt, dem Stahlwerk und dem barocken Wunder des Klosters Neuzelle?“
Karl Döring ist einer, dessen Wort Gewicht hat. 1986 kam der gebürtige Sachse als Generaldirektor des EKO nach Eisenhüttenstadt. Und er war einer derjenigen, die das DDR-Kombinat vor der Zerschlagung bewahrt haben. Stattdessen hat er EKO erfolgreich in die Marktwirtschaft geführt. „Unser erstes Zukunftskonzept haben wir Anfang Juni 1990 der De-Maizière-Regierung auf den Tisch gelegt“, erzählt der heute 83-Jährige, der auch nach seiner Pensionierung in Eisenhüttenstadt geblieben ist. „Wir wollten nicht verkauft werden, sondern mit unseren Konzepten in die Marktwirtschaft.“
Der Kampf um das Stahlwerk
Als Anfang der neunziger Jahre der italienische Riva-Konzern das Werk zerschlagen wollte, gingen Belegschaft und Konzernleitung auf die Barrikaden. „Welche andere Belegschaft ist auf die Autobahn gegangen und hat die Autobahn zugemacht?“, fragt Döring. „All das haben unsere Kumpels gemacht? Nennen Sie es revolutionärer Wille, aber Überlebenswille war es auf jeden Fall.“ Auch Frank Balzer, damals im Betriebsrat, erinnert sich an die Zeit. „Mit der Blockade der Autobahn und den Demos vor dem Finanzministerium haben wir mit Unterstützung von Gewerkschaft und Politik das Werk gerettet. Und als Betriebsräte haben wir die Restrukturierungsprogramme der Geschäftsführung mitgetragen.“
Die Rettung kam dann durch die belgische Stahlfirma Cockerill-Sambre, die EKO im Jahr 1994 gekauft hat. Allerdings war der Preis für die Erhaltung des Werks hoch. Von den bis dahin 10.000 Kumpels blieben noch 3.000 in Arbeit. Noch einmal so viele kamen in outgesourcten neuen Betrieben unter. Heute arbeiten im Stahlwerk nur noch 2.500 Menschen.
Die Arbeitskämpfe der Nachwendezeit gehören zu den Themen, mit denen das Dokumentationszentrum im kommenden Jahr an die Transformation von Eisenhüttenstadt erinnern will. „Ohne Ende Anfang“ heißt die geplante Ausstellung, die im März starten soll. Florentine Nadolni und das Ausstellungsteam wollen darin auch ein „heißes Eisen“ anpacken. „Die Stadt und die Zukunft der Stadt ohne das Werk zu denken, ist ein Thema, zu dem wir uns verhalten müssen“ sagt sie. „Das ist bisher don’t touch. Es wird nicht offen angesprochen, eher versucht man immer irgendwie mit dem Werk Zukunft zu denken. Alternativen und Ergänzungen dazu wären aber interessant und wichtig.“
Wie unsicher die Situation beim Stahlwerk ist, zeigte sich zuletzt vor einem Jahr. Damals sollten die Werke von ArcelorMittal in Bremen und Eisenhüttenstadt zusammengelegt werden, mit der Geschäftsführung in Bremen. Erst in letzter Sekunde konnte das Vorhaben noch abgewendet werden. Gäbe es in Eisenhüttenstadt keinen eigenen Geschäftsführer mehr, hieß es damals hinter vorgehaltener Hand, wäre das wohl der Anfang vom Ende des Stahlwerks. Einen 75. Geburtstag von Werk und Stadt würde es dann vielleicht gar nicht mehr geben.
Stadt ohne Werk? Frank Balzer will darüber nicht nachdenken. Es wäre das Ende der Symbiose, die sein Leben bedeutet. Schließt das Werk, ohne dass es in der Schublade eine Alternative gibt für eine Entwicklung als smarte Industriestadt zum Beispiel, würden Künstler, die in einigen Jahrzehnten auf dem Rosenhügel stehen, vielleicht Bilder malen von einer kurzen Episode einer sozialistischen Stadt, einer märkischen Landschaft, die sich die Ruinen zurückerobert.
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