70 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbund: Im Daueraufbruch
Der Deutsche Gewerkschaftsbund feiert Jubiläum. Die Dachorganisation prägte die Sozialgeschichte der Republik – und muss sich heute neu erfinden.
Der 13. Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) im Mai 1986: Einen Monat zuvor hatte die Atomkatastrophe von Tschernobyl ihre radioaktive Wolke über den europäischen Kontinent geschickt, nun saßen spätabends Journalisten mit dem DGB-Vorsitzenden Ernst Breit zusammen. Besprochen wurden die Anträge für den Kongress, darunter einer, der den „Ausstieg aus der Kernenergie“ forderte. „Was meinen Sie, Herr Breit, wird dieser Antrag durchkommen?“ Und Breit antwortete: „Wenn die Kinder nicht mehr im Sandkasten spielen dürfen, dann müssen wir wech davon.“
Der Antrag wurde beschlossen und machte den DGB – trotz heftiger Konflikte innerhalb und zwischen den Mitgliedsgewerkschaften – zur ersten Großorganisation in Deutschland, die sich die Forderung nach dem Atomausstieg zu eigen machte.
Das Vorgehen hat Symbolwert bis heute: Immer noch versteht sich der DGB als „politischer Arm“ und Serviceorganisation, etwa beim Rechtsschutz, der Gewerkschaftsbewegung: einflussreich und machtlos zugleich, Leithammel und Spielball für die Mitgliedsgewerkschaften mit ihren unterschiedlichen Brancheninteressen und politischen Profilen. Am Montag nun feiert der Gewerkschaftsbund seinen 70. Geburtstag: mit einem Festakt in Berlin samt Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland und ein Großteil seiner Fabriken in Trümmern lagen, hatten viele der aus den Schützengräben zurückgekehrten Gewerkschafter eigenhändig den Wiederaufbau ihrer Betriebe in Angriff genommen. Etliche ihrer Chefs waren als Ex-Nazis diskreditiert und machtlos. Im industriellen Kerngebiet an der Ruhr hatten IG Metall und IG Bergbau bestimmenden Einfluss, auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung: Am 13. Oktober 1949 gaben sich 16 selbstständige Gewerkschaften mit insgesamt rund 5 Millionen Mitgliedern einen gemeinsamen Dachverband – den Deutschen Gewerkschaftsbund.
Schon ein Jahr zuvor hatten sich, anlässlich der Währungsreform, rund zehn Millionen Beschäftigte in der amerikanischen und britischen Besatzungszone an einem eintägigen Generalstreik gegen Preiserhöhungen und für betriebliche Mitbestimmung beteiligt. Später, am 4. April 1951, setzte der DGB das Gesetz zur Mitbestimmung in der Montanindustrie durch, das den Belegschaftsvertretern Mitbestimmungsrechte im Aufsichtsrat der Unternehmen verschaffte.
35-Stunden-Woche als Machtprobe
1952 folgte dann das Betriebsverfassungsgesetz, das die Mitwirkungsrechte der Betriebsräte bei Personalpolitik und Arbeitsbedingungen festschrieb – beides Grundsteine der jahrzehntelang auch von CDU-Politikern gepriesenen „sozialen Marktwirtschaft“.
1956/57 waren die Gewerkschaften bereits auf über 6 Millionen Mitglieder gewachsen. Sie nutzten den Nachkriegsaufschwung, um soziale Verbesserungen durchzusetzen. So erkämpfte die IG Metall in einem dreieinhalb Monate erbittert ausgetragenen Arbeitskonflikt in der Metallindustrie Schleswig-Holsteins die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die Arbeiter in den Werften. Auf Betreiben des DGB wurden die Regelungen dieses Tarifvertrags später als Gesetz für alle Beschäftigten in der Bundesrepublik verallgemeinert.
Der Aufstieg der Gewerkschaften und ihres Dachverbands DGB setzte sich bis in die achtziger Jahre fort. Die neuen sozialen Bewegungen, als Folge der rebellischen Aufwallungen von 1968, spülten massenweise neue Mitglieder in die Gewerkschaften, häufig in kritischer Distanz zu den „verkrusteten Apparaten“.
Die IG Metall unter ihrem Vorsitzenden Otto Brenner bot dem von der SPD wegen Linksabweichung geschassten Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) Unterschlupf in der Frankfurter IG-Metall-Zentrale. Ein ehemaliges Mitglied des SDS-Vorstands, Helmut Schauer, war später in der Tarifabteilung der IG Metall an den Planungen des Arbeitskampfs für die 35-Stunden-Woche beteiligt.
Das Projekt wurde eine gesellschaftliche Machtprobe: Massenhaft mobilisierten 1984 Beschäftigte in den Tarifgebieten Baden-Württemberg und Hessen für die 35-Stunden-Woche, parallel streikte sieben Wochen lang die kämpferische IG Druck und Papier. Schließlich wurde ein Durchbruch für die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf unter 40 Stunden erkämpft – gegen heftigsten Widerstand der Arbeitgeber (Massenaussperrungen) und der CDU-Regierung (Kanzler Kohl: „dumm und töricht“).
Taumelnd im Skandalchaos
Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften mit nun 7,9 Millionen Mitgliedern waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht – und gleichzeitig in ihrer tiefsten Krise. Denn auch der gemeinwirtschaftliche Sektor des DGB war gewachsen – bis zum Kollaps, der Anfang 1982 durch die Skandalenthüllungen des Spiegel über Korruption und Selbstbereicherung der gewerkschaftlichen Manager in der Neuen Heimat und anderen gemeinwirtschaftlichen Unternehmen ausgelöst wurde.
Eine jahrelang im Skandalchaos hilflos dahintaumelnde DGB-Führung beschloss, den lästigen, überschuldeten NH-Konzern im September 1986 für eine symbolische Mark an den Bäckereiunternehmer Horst Schiesser zu verkaufen. Die taz meldete als Erste: „Neue Heimat an Bäcker verkauft“. Und ein paar Wochen später, als der Kauf aufgrund des öffentlichen Drucks ebenfalls für eine Mark rückgängig gemacht werden musste: „Neue Heimat preisstabil“. Am Ende hatte der DGB seinen gemeinwirtschaftlichen Sektor und damit seinen Vermögensrückhalt weitgehend verloren. Ein verdienter Rückschlag, der die Gewerkschaften auf ihre ureigenste Machtreserve zurückwarf: das Engagement und die Kraft ihrer Mitglieder. Und eine unmissverständliche Aufforderung zur kulturellen und politischen Erneuerung.
Ebendiese suchten nachwachsende Führungskräfte des DGB, darunter der heutige DGB-Chef Reiner Hoffmann, in Diskussion mit gesellschaftskritischen Sozialwissenschaftlern – „Jenseits der Beschlusslage“. Wie können die Gewerkschaften Anschluss finden an die sozialen Bewegungen, an veränderte Beschäftigungsstrukturen in Industrie und Dienstleistungsbereich, an soziale Differenzierung und Individualisierung?
Die IG Metall organisierte unter ihrem Vorsitzenden Franz Steinkühler eine Zukunftsdiskussion mit gewerkschaftsnahen Industriesoziologen, öffnete sich neuen Themen wie der Überwindung kurz getakteter Fließbandarbeit durch Gruppenarbeit. Und sie entwickelte eine internationale gewerkschaftliche Zusammenarbeit in den sich bildenden Weltkonzernen: So wurde 1998 bei VW der erste Weltbetriebsrat gegründet, in dem Delegierte aus allen Standorten und Kontinenten vertreten waren.
Mitgliederschwund setzt sich bis heute fort
Die Neuorientierung der Gewerkschaften wurde jedoch schon zuvor jäh unterbrochen: durch die Wende 1989/90. Die DGB-Gewerkschaften übernahmen, zweifelnd und begehrlich zugleich, die jeweiligen Branchengliederungen des DDR-Gewerkschaftsbunds FDGB und erlebten einen sprunghaften Mitgliederzuwachs von 7,9 (1990) auf 11,85 (1991) Millionen – ein vielleicht notwendiger, aber teurer Flop.
Denn gleichzeitig brach die DDR-Ökonomie flächendeckend zusammen, schnellte die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland hoch und schuf ein Heer von Arbeitslosen, die scharenweise aus der nun nicht mehr bindenden Zwangsmitgliedschaft der ehemaligen DDR-Gewerkschaft flüchteten. Neun Jahre später, zur Jahrtausendwende, waren in den DGB-Gewerkschaften knapp 7,8 Millionen Mitglieder organisiert, weniger als zehn Jahre zuvor nur in Westdeutschland.
Der Mitgliederschwund hat sich bis heute fortgesetzt, rund 6 Millionen Menschen waren 2018 Mitglied einer DGB-Gewerkschaft. Aber die Abwärtskurve ist flacher geworden. Auch die Struktur des Dachverbands hat sich verändert. Aus 16 Branchengewerkschaften unter dem Dach des DGB im Gründungsjahr 1949 sind bis heute durch Fusionen und Einverleibungen acht geworden – darunter die beiden dominanten Großgewerkschaften IG Metall und Verdi.
Sie alle stehen nach Jahrzehnten des alles durchdringenden Neoliberalismus vor der Aufgabe, die Interessen der Beschäftigten in Zeiten umwälzender Veränderungen durch Digitalisierung, Globalisierung und Klimaschutz neu zu definieren und wirkungsvoll zu vertreten. Ein wachsendes soziales Problembewusstsein kommt dem entgegen. „Die größten Probleme“, sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann, „gibt es dort, wo sich Arbeitgeber der Sozialpartnerschaft verweigern und keine Tarifverträge abschließen wollen.“ Also inzwischen fast überall.
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