70. Geburtstag von Peter Handke: Der literarische große Bruder
In den siebziger Jahren ging Peter Handke dem jungen Stephan Wackwitz eher auf die Nerven. Heute sieht er ihn als seinen Klassiker. Eine Hommage.
Peter Handke ist derjenige (und der einzige) Schriftsteller, dessen Anfänge als Schreiber mit meinen Anfängen als Leser in eins fallen und der mich deshalb mein ganzes Leserleben lang so durchgehend interessiert hat wie kein anderer, eine Art literarische Großer-Bruder-Gestalt also. Er ist, glaube ich, der Klassiker meiner Generation. Jedenfalls ist er mein Klassiker.
Sein Debüt, den Suhrkamp-Band „Die Hornissen“, hatte damals im Internat Schöntal ein Kamerad aus den Ferien mitgebracht, der heute Redakteur einer regionalen Zeitung im Schwäbischen ist und das Buch mit großem Demonstrativgenuss und unter allgemeinem Distinktionsgewinn las. Oder jedenfalls zu lesen vorgab. Viel ernsthafte Lektüre in diesem Alter ist ja Renommierlektüre.
Es war die Zeit von „Blow Up“, „2001: Odyssee im Weltraum“, die Zeit des „White Album“. Und ich kann mich an einen Satz erinnern, den er uns aus den „Hornissen“ vorlas und den ich noch weiß (oder zu wissen glaube), obwohl ich nie mehr kontrolliert habe, ob er bei Handke wirklich so steht: „Oft im November fällt am Morgen schon Schnee.“ Das seien Daktylen, kommentierte der heutige Redakteur bescheidwisserisch. Er hatte recht, glaube ich.
„Publikumsbeschimpfung“ (1965): Das erste Stück des 23-jährigen Jurastudenten. Handke rüttelt an Egoismus und Zufriedenheit - immer noch aktuell.
„Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ (1969): Jedes Wort ein Reizwort - typische Handke eben.
„Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ (1970): Wie es sich anfühlt, wenn einem die Realität abhandenkommt.
„Wunschloses Unglück“ (1972): Sein bestes Buch, einfach nur unglaublich gut. Handke über den Suizid seiner Miutter. Erinnert mit seiner Intensität an Marguerite Duras' „Der Schmerz“.
„Kindergeschichte“ (1981): Kritische Hymne an sein Vaterdasein, seiner Tochter gewidmet.
„Mein Jahr in der Niemandsbucht“ (1994): Der Spiegel nannte es ein Mammutwerk - zu Recht.
„Lucie im Wald mit den Dingsda“ (1999): Er nervt zwar mit seiner weltverbesserischen Art, dennoch ein lesenswertes Märchen.
„Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ habe ich mir seinerzeit dann zusammen mit H. C. Artmanns „Fleiß und Industrie“ zu Weihnachten gewünscht. Das war so der Kontext. Man kaufte und las Handkes experimentelle Anfänge damals parallel zu Büchern wie Oswald Wieners „die verbesserung von mitteleuropa“, das mir aber besser gefiel als Handke, vor allem deshalb, weil unser Deutschlehrer diesen Roman noch nicht kannte und wir ihm deshalb voraus waren.
Handke als Hobby
Unser damals avanciertester revolutionärer Kader (er ist heute Lehrer an einer Privatschule) urteilte dann über die Anteilnahme des Lehrpersonals an unserer Lektüre des neuen literarischen Popstars, wie es seine Gewohnheit war, nämlich vernichtend-abschließend. Handke sei das „Hobby der Oberstudienräte“. Womit der Mann aus Österreich für mich erst mal ziemlich erledigt war. Übrigens waren wir mit dem damals erstaunlichen – in der überwiegend auf Populärkulturkritik gebürsteten Gruppe 47 unerhörten – Interesse Handkes an Film und Popmusik so einig, dass es uns seinerzeit gar nicht aufgefallen ist.
Der 60-jährige ist (nach Stationen in Tokio, München, Krakau, Bratislawa und New York) Chef des Goethe-Instituts in Tiflis und Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Bücher „Ein unsichtbares Land“, „Neue Menschen“ und zuletzt „Fifth Avenue“ (alle erschienen im Fischer-Verlag). In der taz schreibt Stephan Wackwitz regelmäßig Essays und Buchbesprechungen, zuletzt etwa über David Foster Wallace, Arno Schmidt und Marcel Reich-Ranicki.
Und das Kellertheater Blaubeuren nahm die „Publikumsbeschimpfung“ in ihr Repertoire, wobei die eigentliche Sensation meiner Erinnerung nach darin bestand, dass die achtzehnjährige Tochter des Gründer- und Besitzerehepaars mitspielte und ich folglich jedes Mal hinging, wann immer ich in den Ferien zu Hause war.
In den siebziger Jahren ließ mein Interesse an Handke dann erst mal nach. Ich interessierte mich damals eigentlich überhaupt nur noch für die Weltrevolution. Wenn ich in „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ oder „Der kurze Brief zum langen Abschied“ gelegentlich hineinsah, fand ich, dass die Figuren so gestelzt und künstlich sprachen wie die in Faßbinders Filmen, und das ging mir auf die Nerven. Handkes Film „Falsche Bewegung“ habe ich damals rezensiert für den Roten Faust, die Sektionszeitung Anglistik/Romanistik/Germanistik des MSB Spartakus in Stuttgart. Ein Totalverriss, versteht sich.
Richtig aufgehorcht und wieder Handke-Bücher gekauft habe ich dann erst wieder in den achtziger Jahren, als der Revolutionsspuk vorbei war und die große Tetralogie der kleinen Romane mit dem Dramatischen Gedicht als Abschluss herauskam. Damals träumte ich, mein bester Freund aus der Internatszeit (er ist heute Musikkritiker) habe das glühend von mir bewunderte erste und eponyme Buch der „Langsamen Heimkehr“-Serie geschrieben. Worin sich meine damals sehr virulenten schriftstellerischen Ambitionen diskret, nämlich in der Traumverschiebung, kundtaten.
Handke und Serbien
Mit diesen langen, schwingenden, in der deutschen Gegenwartsliteratur bis dahin noch nie vernommenen Sätzen begann dann mein eigentliches, das erwachsene Handke-Leser-Leben, das heute noch andauert. Und Handke verschaffte mir damals – allein das würde ich ihm nie vergessen dürfen – die Bekanntschaft mit den Büchern von Hermann Lenz (eine andere Geschichte).
Nichts nimmt das deutschsprachige Lesepublikum so übel wie das Pfeifen auf politische Korrektheit. Und so steht Handkes in mehrfacher Hinsicht diskussionswürdiges Engagement für Serbien seit den neunziger Jahren zwischen ihm und dem halben Land. Er ist schon längst nicht mehr das Hobby der Oberstudienräte. Dabei ist seinerzeit wenig beachtet worden, dass Handke bereits in seinem ersten „serbischen“ Aufsatz dezidiert literaturgeschichtliche Spuren ausgelegt hat, die seine politische Empörung poetisch statt politisch erklärbar gemacht hätte, wenn man genauer gelesen und hingesehen hätte.
Er verweist nämlich im „Abschied des Träumers vom neunten Land“ auf Hugo von Hofmannsthals „Briefe des Zurückgekehrten“ von 1907, eine erfundene Korrespondenz aus dem gedanklichen Umfeld des „Chandos-Briefs“. Es fragt sich sehr, ob Handkes Serben-Rappel eigentlich eine politische Erregung gewesen ist oder nicht eher eine dingmetaphysische und poetische Intervention in den politischen Diskurs, eine Art provokatorischer Lord-Chandos-Stilbruch. Der Versuch, unpolitisch über Politik zu reden. Schon jene „Gerechtigkeit“, die er für Serbien forderte, ist ja kein politischer Begriff, sondern ein metaphysischer.
Man erinnert sich bezeichnenderweise an den Reiseessay der Süddeutschen Zeitung, mit dem der Radau seinerzeit losging, dann heute auch nur noch anhand eines poetischen und ein bisschen skurrilen Adjektivs, schön und zugleich ganz zart unfreiwillig komisch, wie so vieles bei Handke. Ich jedenfalls kann nicht behaupten, dass ich von diesem langen Artikel etwas anderes noch im Kopf hätte als jene berüchtigte Formulierung von den „andersgelben Nudelnestern“.
Andersgelbe Nudelnester
Und vielleicht noch eine ebenfalls seltsam eindrückliche, aber weniger im Formulierungsdetail memorierbare Beschreibung improvisierter Tankstellen am serbischen Straßenrand, die den Treibstoff angeblich erkennbar machten als dickflüssigen „Bodenschatz“. Vom politischen Handke dieser Monate ist heute nichts mehr übrig als zwei Stilfiguren. Er ist ist fünfzehn Jahre später nur doch „Der Mit Den Andersgelben Nudelnestern“.
Hoffmannsthals Lord Chandos und der späte Heidegger bilden den intellektuellen Kontext von Handkes Politik, nicht Slobodan Milosevic und Joschka Fischer. „Wie gegenständlich aber wurden dafür mir durch die Jahre, gleich beim wiederholten Überschreiten der Grenze, die Dinge in Slowenien: Sie entzogen sich nicht – wie das meiste inzwischen nicht bloß in Deutschland, sondern überall in der Westwelt –, sie gingen einem zur Hand.
Ein Flussübergang ließ sich spüren als Brücke; eine Wasserfläche wurde zum See, der Gehende fühlte sich immer wieder von einem Hügelzug, einer Häuserreihe, einem Obstgarten begleitet, der Innehaltende dann von etwas ebenso Leibhaftigem umgeben, wobei das Gemeinsame dieser Dinge die gewisse herzhafte Unscheinbarkeit gewesen ist, eine Allerwelthaftigkeit: eben das Wirkliche, welches wie wohl nichts sonst jenes Zuhause-Gefühl des ’Das ist es, jetzt bin ich endlich hier!‘ ermöglicht.“ Richard Rorty hat geschrieben, eine demokratische Gesellschaft zeichne sich dadurch aus, dass sie Dichtern und Revolutionären das Leben so schön wie möglich mache – und gleichzeitig sicherstelle, dass sie umgekehrt der Gesellschaft das Leben nur mit Büchern und Visionen schwer machen können statt durch politische Taten.
Eine Demokratie sollte so auch mit Handkes dingmetaphysischer Politik umgehen. Goethe war für Napoleon. Das war damals mehr als politisch unkorrekt, es war geradezu schon Landesverrat. Voltaire verhaftet man nicht, und Voltaire zerrt man auch nicht vor die Wohlfahrtsausschüsse der politischen Korrektion. Das Getümmel um den Heine-Preis und vieles andere dieser Art ist unwürdig gewesen.
Der große Bruder
Neulich hat mir wieder von Handke geträumt. Er stand plötzlich neben einem im Freien aufgestellten Kaffeetisch, um den meine Familie saß (die ich nur zu diesem Anlas im Traum noch einmal so vollständig versammelt habe, wie es sie längst nicht mehr gibt). Er hatte ein nachtblaues Baumwollhemd von Yohji Yamamoto an und einen Gegenstand in der Hand, den ich erst für eine Orange hielt, der sich dann aber als kleiner roter Plastikball entpuppte.
Wir waren alle so alt wie in den siebziger Jahren, und Handke flirtete ein bisschen mit meiner kleinen Schwester. Mit mir ließ er sich auf einen spielerischen Boxkampf ein. Wir lachten alle. Es war ein glücklicher und friedlicher Traum. Er war in diesem Traum wirklich der große Bruder, den ich nie hatte.
Nein, es besteht auf den zweiten Blick überhaupt kein Zweifel. Handke ist unser Klassiker. Von welchem anderen Gegenwartsschriftsteller hätte ich jemals geträumt? Ich und meine Klassenkameraden aus dem Internat Schöntal (wo und was sie jetzt auch immer sein mögen) gratulieren ihm herzlich zum Siebzigsten (meine Güte, ist das alles schon so lange her?), zusammen mit dem ganzen Land. Oder zumindest mit dem halben. Denn umstritten war Goethe zu seiner Zeit, im 19. Jahrhundert, auch. Auf Klassiker konnten sich in der deutschen Literaturgeschichte selten alle einigen. Und das, verdammt noch mal, sollen sie auch gar nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren