65 Jahre nach Hiroschima: Meditation über die Bombe
65 Jahre ist es her, dass über Hiroschima und Nagasaki Atombomben abgeworfen wurden. Doch auch im neuen Jahrtausend sind die Waffen präsent.
Der letzte Abwurf einer Atombombe, seien wir mal ehrlich, ist schon so lange her, der ist doch gar nicht mehr wahr. Diesen Eindruck jedenfalls könnte gewinnen, wem die seit dem Ende des Kalten Krieges schleichende Umwidmung der Atombombe zum Allzweckwerkzeug nicht entgangen ist. Über sie wird gesprochen, als handele es sich um einen Vorschlaghammer - eine feine Sache, solange er nicht in die falschen Hände gerät, die von Kindern oder Terroristen. In den richtigen Händen kundiger und entschlossener Leute aber, so die Erzählung, könnte die Atombombe durchaus eine segensreiche Wirkung entfalten. Für die Menschheit, versteht sich, denn drunter machts ein so gewaltiges Werkzeug nicht.
Es ist auch ein gewaltiger Unterschied, ob man diese Waffe am eigenen Leib erfahren hat, aus sicherer Distanz einen Test miterleben durfte, ihre verheerende Wirkung nur aus Büchern und Filmen kennt - oder, wie ich es bin, mit ihrer unsichtbaren Präsenz aufgewachsen ist. Hinter den sieben Bergen der idyllischen Westpfalz nämlich bunkerten und bunkert noch die USA jahrzehntelang, was sie so für den Nahkampf mit vorrückenden Sowjetpanzern in der norddeutschen Tiefebene alles zum Einsatz zu bringen gedachten.
Paradoxerweise lebt es sich an manchen Orten ganz behaglich im tiefen Schatten dieser Präsenz. In der Pfalz etwa wird nicht die Atombombe gefürchtet - sondern die wirtschaftliche Katastrophe, falls die Waffe zusammen mit der sie einhegenden militärischen Infrastruktur tatsächlich eines Tages verschwinden könnte: Giftgas im verschlafenen Dorf Fischbach bei Pirmasens an der französischen Grenze.
Kampf- und Bombergeschwader auf dem kleinstadtartigen Luftwaffenstützpunkt Ramstein. Wer in dessen Einflugschneise Kaiserslautern aufwächst, kann irgendwann zwangsläufig eine anfliegende F-15 mühelos von einer F-16 unterscheiden. Unvergessen der eigentümlich lustvolle Grusel, als in all den Jahren ein einziges Mal bei Tageslicht der atlantikgraue taktische Atombomber B-52 über der Stadt einschwebte. Wie ein prähistorisches Tier, ein böses prähistorisches Tier, fähig, alle Historie zu beenden und aus allen vier Triebwerken hell aufheulend unter der Last dieser titanischen Macht.
Eine Macht, die sich ganz nüchtern in Toten oder auch Kilotonnen messen ließe. Zur Illustrierung könnte man von der gewaltigsten jemals von Menschen verursachten Explosion erzählen, der sogenannten Zar-Bombe, die 1961 über der Insel Nowaja Semlja gezündet wurde und deren Kawumm nach Durchwandern der Erdkugel noch auf der entgegengesetzten Seite messbar war, ihre Schockwelle sogar noch nach dreifacher Umrundung des Globus.
Dieser Text stammt aus der aktuellen sonntaz vom 31.7./1.8.2010 - ab Samstag mit der taz am Kiosk oder direkt in ihrem Briefkasten.
Der Termin: Am 6. August des Jahres 1945, also vor 65 Jahren, warfen die Vereinigten Staaten von Amerika die erste Atombombe auf die japanische Stadt Hiroschima, am 9. August die zweite Bombe auf die Stadt Nagasaki. Die Atombombenexplosionen töteten etwa 92.000 Menschen sofort. Weitere 130.000 Menschen starben an Folgeschäden.
Das Problem: Selbst 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges lagern heute weltweit noch immer mindestens 23.000 Atomwaffen. Mindestens 20 davon sind im deutschen Büchel in der Eifel stationiert. Jüngst stellte der Bundestag einen interfraktionellen Antrag, um den endgültigen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland durchzusetzen.
Dürfte man über entfesselte Omnipotenzen nicht in einer allem Wissenschaftlichen entgegengesetzten Sprache sprechen? Eine verblüffende Kohärenz zwischen dem Göttlichen und dem Zerstörerischen findet sich jedenfalls im altindischen Vers-Epos "Bhagavadgita". Darin bittet der Held Arjuna, die wahre Gestalt des Gottes Krischna schauen zu dürfen. Dieser warnt Arjuna, sein Anblick sei Sterblichen unerträglich: "Doch wirst du mich nicht können sehn mit diesem deinem eignen Aug, ein himmlisch Auge geb ich dir - schau mein, des Herren, Wundermacht!"
Arjuna schaut und stammelt: "Wenn das Licht von 1000 Sonnen am Himmel plötzlich bräche hervor zur gleichen Zeit - das wäre gleich dem Glanze dieses Herrlichen … Du leckst und züngelst rings umher, verschlingend die Menschen alle mit den Flammenrachen; die ganze Welt mit ihrem Glanz erfüllend glühen deine fürchterlichen Strahlen, Wischnu!"
Die erste indische Atombombe, mehr als drei Jahrtausende nach diesen Versen gezündet, hieß übrigens "Smiling Buddha". Das mag man zwar für zynisch halten, doch verrät es immerhin mehr Gespür für die Qualität dessen, was man da tut, als lapidare Verniedlichungen wie "Little Boy" (Hiroschima) oder "Fat Man" (Nagasaki).
Vollends verloren gehen nun Sinn, Verstand, der letzte Respekt vor der eigenen Potenz, wenn Kernwaffen, da sie ja nun mal in der Welt sind, "nützlichen" und damit zivilen Zwecken zugeführt werden sollten. Passiert ist das schon. In den USA wie in der Sowjetunion wurde versucht, mit unterirdischen Explosionen besser an Rohstoffvorkommen zu gelangen oder Kavernen zu erzeugen. Pläne gab es, den Kanalbau mithilfe von Wasserstoffbomben zu beschleunigen.
Oder Raumschiffe mit einem lustigen "nuklearen Pulstriebwerk" auszustatten - was bedeutet, sie auf den Druckwellen reihenweise detonierender Wasserstoffbomben durchs All zu jagen. Apropos All: Asteroiden auf Kollisionskurs mit der Erde sollen angeblich auch mit Atombomben aus der Bahn gelenkt werden können. Der jüngste Vorschlag aus dem Lager der Machbarkeitsfanatiker lautete, unkontrollierbare Gas- oder Öllecks wie das im Golf von Mexiko mithilfe einer nuklearen Explosion gleichermaßen zu versiegeln. Eine Atombombe, gezündet über einem Ölreservoir unbekannter Größe am Meeresboden? Hey, gute Idee!
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