65 Jahre Langspielplatte: Der Ton und sein Träger
Die Geburt der Langspielplatte war eine Sensation. Ihre Wirkung auf die Popkultur ist nicht zu unterschätzen. Sie zwingt zu sinnlicher Kontemplation.
Im Jahr 1838 schrieb der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy einem befreundeten Geiger: „Ich möchte Dir wohl auch ein Violinkonzert machen für nächsten Winter; eins in e-moll steht mir im Kopfe, dessen Anfang mir keine Ruhe läßt.“ Genau dieser wundervolle Anfang, ein Allegro aller Streicher mit Einsatz der Violine schon im zweiten Takt, erklang auch 110 Jahre später im Hotel Waldorf Astoria in New York.
An sich wäre das keine Sensation gewesen. Das Aufzeichnen und Abspielen von Klängen gehörte damals schon zu den Menschheitsmärchen – wie etwa in den Abenteuern des Barons Münchhausen, wo ein gefrorenes Posthorn seine Klänge nach dem Auftauen wieder abgibt –, die auf wundersame Weise wahr geworden waren. Nein, neu war lediglich die glasklare Qualität, in der das Opus 64 an diesem Tag erklang. Und sensationell war die Tatsache, dass das Violinkonzert – unterbrochen nur von einer andächtigen Pause, in der die Platte einmal gewendet wurde – in voller Länge genossen werden konnte. Der Ton hatte seinen Träger gefunden.
An jenem 20. Juni 1948 hatte auf einer Pressekonferenz die Plattenfirma Columbia Records die erste Langspielplatte vorgestellt. Einen Tag später sollte sie auf den Markt kommen. Edward Wallerstein, der an der Entwicklung und der Präsentation beteiligt war, erinnerte sich an die Verblüffung der anwesenden Journalisten: „Die Rezeption war sagenhaft. Alle waren sich einig, Zeuge der Geburt einer neuen Ära geworden zu sein“.
Zwar war schon vor dem Krieg daran geforscht worden, die technischen Hürden zu überwinden – die Rillen waren zu weit, die Nadeln zu dick und die Tonarme so schwer, dass sie sich förmlich in das Vinyl hineinfrästen. Auch war das technische Prinzip bereits bekannt: Der ursprünglich durch den Tontechniker gespeicherte Ton befindet sich, mechanisch gespeichert, in der modulierten Rille einer Kunststoffscheibe; diese Rille wird von einer Nadel abgetastet, deren minimale Schwingungen wieder in elektrische beziehungsweise akustische Impulse umgesetzt werden. Nach dem Krieg setzte der Ingenieur Peter Carl Goldmark – ein jüdischer Emigrant aus Ungarn, dem wir auch das Farbfernsehen verdanken – ein ganzes Team aus Spezialisten, darunter Wallerstein, auf jedes einzelne der bekannten Probleme an.
Columbia: Top Secret!
Columbia arbeitete unter höchster Geheimhaltung auch an tauglichen Plattenspielern, die von der Firma Philco entwickelt wurden. Das Vinyl lieferte das Chemieunternehmen Union Carbide. Die Erfinder versprachen sich von ihrem Produkt so viel, dass sie die Bezeichnung „long player“ ebenso wie die Abkürzung „LP“ urheberrechtlich schützen ließen – und die „Single“ der Konkurrenz überließen.
Die erschwingliche Langspielplatte mit ihren 33,33 Umdrehungen pro Minute etablierte einen Industriestandard, der nicht nur die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kommerziell dominieren sollte, sondern überhaupt erst die Musikproduktion in ihr industrielles Zeitalter überführte. Zumal heute vor 65 Jahren nicht nur Mendelssohn-Bartholdy, sondern mit „The Voice of Frank Sinatra“ noch eine weitere Platte veröffentlicht wurde, wie nebenbei den Umstand unterstreichend, dass auf dieser Länge statt eines ausgedehnten Stückes auch mehrere kurze Schlager ihren Platz finden könnten.
Adorno: Revolution!
Zugleich hatte, fast unbemerkt, auch „das Album“ das Licht der Welt erblickt – und damit ein Behältnis für Musik, an der nicht nur ein klassisch gebildetes Bürgertum seine gediegene Freude hat. Tatsächlich war die Wirkung der Langspielplatte auf das, was erst Jahrzehnte später einmal „Popkultur“ genannt wurde, kaum zu unterschätzen. „Jedenfalls“, schrieb Theodor W. Adorno noch 1969 im Hinblick auf die Oper, „greift der Ausdruck Revolution für die Langspielplatte kaum zu hoch. Die gesamte musikalische Literatur könnte Hörern, die sie zu ihnen genehmer Zeit vernehmen und studieren wollten, in recht authentischer Gestalt verfügbar werden.“ Der Philosoph wähnte „hinter den technisch-industriellen und den künstlerischen Erfindungen“ denselben „geschichtlichen Prozeß am Werk, dieselbe menschliche Produktivkraft“. Und er stellte fest: „Nicht ganz selten in der Geschichte der Musik gewinnen technische Erfindungen ihren Sinn erst lange, nachdem sie gemacht wurden.“
Im Hinblick auf die Popmusik dauerte es tatsächlich fast 20 Jahre, bis Künstler die technisch-industrielle Erfindung ausreizten. Die „großen Alben“ der Pop- und Rockgeschichte sind eben „große Alben“, nicht nur nette Hits. Die Musiker hörten spätestens in den 60er Jahren auf, das Format nur wie ein virtuelles Gefäß mit Songs zu füllen. Sie verwandelten es selbst in einen sinnstiftenden kulturellen Artefakt. Dazu gehörte, dass sich plötzlich auch Popmusiker als „auteurs“ fühlen und die Länge der Langspielplatte mit „Suiten“ füllen konnten.
Ein Single-Hit blieb schön und gut. Wer aber nach Höherem strebte, der hatte das lange Format mit Sinn und Form zu beleben – wie es die Beatles erstmals in Vollendung mit „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ zelebrierten; bis hin zu einem Pfeifton von 15 kHz, mit dem schlafende Hunde geweckt werden sollten, oder der konzentrischen Endrille, die nur per Hand angesteuert werden konnte und einen sich endlos wiederholendnen „Hidden Track“ beinhaltete.
Hier wurde das Album nicht mehr als anthologische Kurzgeschichtensammlung, sondern als Roman mit langem Atem und eigener Dramaturgie begriffen. Dieser Anspruch führte nicht nur zum Konzeptalbum, sondern auch zu einer künstlerischen Aufwertung der Verpackung selbst. Die erste Langspielplatte mit dem Konzert von Mendelssohn-Bartholdy strahlte noch schlicht in hellem Blau und zeigte eine stilisierte ionische Säule, während Sinatra heiter in Pink und mit einem stilisierten Notenständer präsentiert wurde. Mit seiner Banane auf dem Cover von „Velvet Underground“ schloss zwei Jahrzehnte später kein Geringerer als Andy Warhol die Ehe zwischen Pop-Art und Pop-Musik. Die Gestaltung der Hülle war längst eine Kunstform von eigenem Recht, als Gruppen wie Pink Floyd sie mit höchster Veredelung zu einem Markenzeichen – und einem Marketinginstrument – machten.
Im Gegensatz zum kurzweiligen Vergnügen der Single zwang die Langspielplatte zu sinnlicher Kontemplation. Das statische Knistern, wenn das Vinyl mit seinen 180 Gramm und 30 Zentimetern Durchmesser aus dem Cover gleitet, gefolgt vom behutsamen Auflegen auf den Plattenteller, vielleicht noch eine schnelle Reinigung mit einer speziellen Bürste, dann das noch behutsamere Aufsetzen der Nadel, die dann eine insgesamt 920 Meter weite Reise durch die Rillenspirale und eine Musik beginnt, die sich in zwei Seiten mit je 23 Minuten unterteilt. Das war der rituelle Rahmen für die private Inszenierung des Musikgenusses.
Industrie: Schluss jetzt!
Die Industrie hatte die Vinyl-Langspielplatte geschaffen, sie verfügte 1980 auch ihr Ende – zugunsten des digitalen Tonträgers, der CD. Noch 1989 lagen beide Formate Kopf an Kopf, aber bereits 1990 wurden mit fast 80 Millionen in Deutschland mehr als doppelt so viele CDs wie Vinyl-Platten verkauft. Bald darauf verkündeten die Phonokonzerne unter Krokodilstränen offiziell den „Tod der Schallplatte“ – und stellten die Produktion ein.
Zu früh, wie sich herausstellte. Die meisten dieser Großkonzerne existieren heute nicht mehr, das Siechtum der CD ist unübersehbar. Seit der Ton sich von seinem Träger gelöst und digitalisiert hat, gibt es kein Halten mehr. Er ist ubiquitär wie Schall und Rauch. Was Platte war mit Geruch, Gewicht und Geheimnis, ist heute nur noch eine Signatur auf dem iPod. Die CD ist ein Wegwerfartikel geworden, während sich der Verkauf von Vinyl-Langspielplatten auf geringem Niveau (etwa 700.000 jährlich) stabilisiert hat, nicht zuletzt wegen der vielen Old-School-DJs mit ihren schweren Plattentaschen und Aktionen wie dem „Record Store Day“, die ein wiedererwachtes Interesse an „den guten Dingen“ bedient, die es „noch gibt“, ganz so, als wäre die Vinyl-Langspielplatte eine Art Manufaktum-Hörgenuss.
Er ist mehr als das. Das Digitale mag „reiner“ sein. Und wer jemals versucht hat, via Skype zu telefonieren, weiß, dass der „Fortschritt“ die Dinge nicht notwendigerweise besser macht. Schon ein schlichtes Violinkonzert in e-Moll ist als komprimierte Sounddatei auf dem MP3-Spieler nur noch ein schwaches Echo seiner selbst, alle Dynamik verebbt zu einem lächerlichen Klangrinnsal. Die Existenz der Langspielplatte (und der Plattenläden, die sie verkaufen) belegt Marshall McLuhans Satz, dass kein neues Medium jemals ganz ein altes ganz verdränge.
Wer heute die Nadel auflegt, besinnt sich auf das Vinyl als zeitloses Material, in dem Musik förmlich und im Prinzip nicht anders eingraviert ist als einst die altsumerischen Gesetzestexte in das schwarze Tiefengestein der Stele des Hammurabi.
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