60.000 Grüne-Mitglieder: Auf Dirndl-Höhe mit Brüderle
Mit 60.000 Mitgliedern haben es die Grünen nun endlich geschafft: Sie sind mitten in der Gesellschaft angekommen. Ein Brief als Würdigung.
Glückwunsch, liebe Grüne,
für Euch ist derzeit ja alles ein großes Fest: die Niedersachsen-Wahl gewonnen, die Umfragewerte steigen, und eine neue Bionade steht seit dieser Woche in den Regalen. Aber damit nicht genug: Mehr Menschen denn je wollen bei Euch Mitglied sein. Stolz habt Ihr am Wochenende verkündet, dass Ihr nun endlich die Marke von 60.000 verbrieften Grünen genommen habt. Was für ein Triumph.
Oder um es mit Euren eigenen grünen Worten zu sagen: „2013 ist durch und durch grün.“ Denn 60.000 Parteimitglieder, das ist natürlich eine machtvolle, das Land durchdringende Größe. Da seid Ihr schon ganz nah dran an der Spitze. Am ADAC etwa (ca. 18 Millionen Mitglieder) oder doch wenigstens am Deutschen Tierschutzbund (ca. 800.000 Mitglieder).
Na gut, fast. Aber immerhin: An der FDP seid Ihr vorbeigezogen, wie Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke im Freudentaumel verkündet. Und weil Ihr damit ja praktisch Volkspartei seid, quakt es auch gleich im Bild-Zeitungs-Jargon aus ihr heraus: „Das ist einfach mal geil!“ Denn, so die Mitteilung auf Eurer Website: „Politisch sind die Grünen schon längst drittstärkste Kraft im Land, jetzt ziehen wir auch bei den Mitgliederzahlen nach.“
Wie ist es dazu gekommen?
Wobei „nachziehen“ schon eine etwas spezielle Wortwahl ist, denn bis zur dritten Kraft in Bezug auf die Mitglieder müssten erst noch die CSU (150.000) und die Linke (65.000) aus dem Weg geräumt werden. Aber gut. Immerhin also stärker als die FDP. Ihr seid jetzt sozusagen auf Dirndl-Höhe mit Rainer Brüderle. Das ist ja allerhand.
Wie ist es dazu gekommen? Steffi Lemke weiß Bescheid: Neben der Energiewende würde als Eintrittsgrund von den neuen Mitgliedern vor allem genannt, „dass sie bei der wachsenden Ungerechtigkeit in unserem Land nicht tatenlos zusehen wollen“. Sondern vermutlich: kräftig daran mitwirken.
Da sind sie bei Euch, den Mit-Erfindern und engagierten Verteidigern von Hartz IV, zweifellos an der richtigen Adresse. Und falls der Tatendrang in Sachen Ungerechtigkeit in unserem Land allein nicht mehr erschöpfend ausgelebt werden kann, wird sich schon irgendein anderes finden, das sich dann im Namen der gerechten Sache bombardieren ließe. Aber bitte energieeffizient.
So könnte ich Euch jetzt noch eine Weile weiterschreiben, liebe Grüne, aber alles hat ja bekanntlich seine zwei Seiten. Und auf der anderen, da steht dann eben „Die Achse des Guten“. Oder die Welt. Wo das Wort „Grüne“ synonym ist für „Gutmenschen“ und beides zusammen für Zumutungen wie Frauen, die plötzlich meinen, überall mitreden zu müssen, oder Schwarze, die aufmucken und den Deutschen erklären wollen, was sie diskriminiert.
Krähen im Chor
Eine Seite, auf der Ulf Poschardt die Überlegung, Kindern tatsächlich einen Kita-Platz anzubieten, damit pariert, dass es in diesem „Kulturkampf nur vordergründig um eine Entwertung traditioneller Familienmodelle“ gehe, dass „in der Kavallerie grüne Wahlkämpfer reiten, die in beispielloser Art und Weise Würde und Ansehen“ jener Eltern „beschädigt haben, die, aufopferungsvoll und wie von Pädagogen und Psychologen empfohlen, für ihre Kinder da sind, wenn diese sie am dringendsten brauchen“, und das alles nur aus einem Grund: „Die Grünen krähen im Chor derjenigen, die sich vor allem um die Abrichtung künftiger Steuerzahler sorgen.“
Eine Seite also, die Ausbeutung, Diskriminierung und Rücksichtslosigkeit als Freiheit deklariert.
Man muss wirklich nur ganz kurz dorthin schauen, um sich, liebe Grüne, dann doch ein bisschen über Euren albern hochgejazzten Mitgliederrekord zu freuen. Lasst uns darauf anstoßen – bei einem leckeren Zigarettchen und mit einem gut gekühlten Dosenbier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren