53 Jahre Haft trotz Zweifeln: „Der Klaus ist kein Mörder“
Klaus Bräunig saß wegen zweifachen Mordes jahrzehntelang in Haft. Im September wurde er entlassen. Der 79-Jährige kämpft weiter für seinen Freispruch.
S ommer 1999, ein Besuch in der Justizvollzugsanstalt in Diez. Das Gefängnis ist über hundert Jahre alt, es ist die größte Langstrafenanstalt in Rheinland-Pfalz. Hier sitzt seit 27 Jahren Klaus Bräunig. Er wurde wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Gerade ist er nicht da. Dieter Bandell, der Leiter des Gefängnisses, hat ihn nach draußen geschickt, ohne Überwachung, er soll die Fenster an der Hauptpforte putzen. Über die Frage, ob man den verurteilten Doppelmörder einfach so rauslassen kann, lacht Bandell. Eine Stunde später kommt Bräunig zurück. Er strahlt. Die Fenster sind sauber. Blitzeblank wie lange nicht.
12 Jahre später sitzt Klaus Bräunig noch immer hinter Gittern. „Er ist ein Mustergefangener“, sagt auch Bandells Nachfolger. Da hat der Klaus, wie ihn hier alle nennen, schon 39 Jahre Strafhaft auf dem Buckel und an keinem Tag Ärger gemacht. Er ist einer, der Konflikten aus dem Weg geht. Vermutlich ist das der Grund, weshalb er überhaupt ins Gefängnis gekommen ist, sagen Vollzugsbeamte, die ihn lange kennen. Womöglich hat er deshalb Morde gestanden, die er gar nicht begangen hat. Sie sind überzeugt: „Der Klaus ist kein Mörder.“ Klaus Bräunig, mittlerweile 79 Jahre alt, beteuert das nun seit mehr als einem halben Jahrhundert selbst. Und kämpft noch immer für seinen Freispruch.
Lebenslänglich heißt nicht unbedingt, dass man den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt. Nach dem Strafgesetzbuch kann die lebenslange Freiheitsstrafe nach mindestens fünfzehn Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Lebenslängliche sind in Deutschland durchschnittlich etwa neunzehn Jahre in Haft. Länger eingesperrt werden unter anderem Straftäter, die ihre Schuld leugnen. Eine Rückfallgefahr ist nicht auszuschließen – so sehen das Vollzugsgerichte.
So war das auch bei Bräunig: All seine Anträge auf vorzeitige Entlassung wurden abgelehnt. Schon 2019 wandte sich Bräunigs Rechtsanwältin, die Münchner Strafverteidigerin Carolin Arnemann, an das Bundesverfassungsgericht. Das entschied in diesem Jahr: Für eine weitere Haftdauer müssen Gründe bestehen. Nachdem ein psychiatrisches Gutachten feststellte, dass von Bräunig keine Gefahr ausgeht, musste er entlassen werden. Seit September ist Klaus Bräunig ein freier Mann – nach 53 Jahren Haft.
Jetzt lebt Klaus Bräunig in einem Pflegeheim, der Ort ist aus Sicherheitsgründen geheim. Er ist froh darüber, dass sich seine Hoffnung, nicht im Knast sterben zu müssen, erfüllt hat. Doch sein letzter Wunsch ist das nicht. Er will einen Freispruch, will nicht länger als Mörder betrachtet werden. „Ich will, dass mein Name wieder reingewaschen wird“, sagt er. Dafür müsste der Prozess gegen ihn noch einmal neu aufgerollt werden.
Das ist schwierig. Denn eine Wiederaufnahme ist nur zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die geeignet sind, einen Freispruch zu begründen. So steht es in der Strafprozessordnung. Anders als bei einer Berufung im Zivilprozess geht es bei der Wiederaufnahme nicht darum, dass eine zweite Instanz das Urteil des Erstgerichts überprüft. Für eine Wiederaufnahme müssen Strafverteidiger*innen Tatsachen vorlegen, die im ersten Verfahren noch nicht bekannt waren, sie müssen neue Zeug*innen präsentieren, neue Sachbeweise.
Um solche Beweise bemühten sich Rechtsanwält*innen im Fall Bräunig jahrzehntelang. Das war eine Herausforderung. Denn Spurenakten sind nicht mehr vorhanden, Beweismittel verschwunden. Vermutlich vernichtet, hieß es bei der Staatsanwaltschaft in Mainz. Vor drei Jahren tauchte dann ein Karton mit alten Asservaten im Keller des Landeskriminalamtes auf. Darin befanden sich Haare der Opfer und Fingernägel. Carolin Arnemann hoffte, Bräunig damit entlasten zu können, gab DNA-Untersuchungen in Auftrag. Doch nach einem halben Jahrhundert ließen sich keine DNA-Spuren mehr feststellen. Die Chancen für eine Wiederaufnahme schienen aussichtslos.
Das änderte sich im vergangenen November. Die ARD griff den Fall auf, in einer vierteiligen Dokumentation ging sie der Frage nach, ob hier ein Justizirrtum vorliegen könnte. Nach der Ausstrahlung meldete sich ein Mann mit konkreten Hinweisen auf einen anderen, möglichen Täter. Der könnte zwei weitere Morde auf dem Gewissen haben. „Die Informationen, die dieser Zeuge gibt, sind belastbar“, sagt Carolin Arnemann, sein Verdacht nicht von der Hand zu weisen. Sie hat im April beantragt, das Verfahren gegen Bräunig wiederaufzunehmen.
Der Antrag liegt nun beim Landgericht in Bad Kreuznach. Noch sei nichts entschieden, heißt es auf Anfrage, und wann die Entscheidung fallen werde, ist nicht abzusehen. Sollte es tatsächlich zu einer Wiederaufnahme und womöglich zu einem Freispruch von Bräunig kommen, wäre das laut Rechtsanwältin Arnemann einer der größten Justizskandale Deutschlands: „Mir ist kein Fall in Deutschland bekannt, wo ein Mensch 53 Jahre unschuldig im Gefängnis verbracht hat.“
Der Doppelmord, für den Klaus Bräunig verurteilt wurde, liegt lange zurück: Es ist der 13. April 1970, ein Montag, als in Mainz die Kinderärztin Margot Geimer und ihre 17-jährige Tochter Dorothee in ihren Schlafzimmern tot aufgefunden werden. Brutal ermordet. Der Fall wühlt nicht nur das beschauliche Mainz auf, er erregt bundesweit Aufsehen. Es ist eine mysteriöse Geschichte: Die Polizei findet keine Spuren am Tatort, keine Fingerabdrücke, nichts. Türklinken sind offensichtlich abgewischt worden.
Ein Sexualdelikt wird ausgeschlossen, auch ein Einbruch. Kein Fenster ist eingeschlagen, keine Tür aufgebrochen. Schmuck und Bargeld sind unberührt, nur ein Revolver wurde gestohlen. Die Frage, wie der Mörder ins Haus gekommen ist, lässt sich nicht beantworten. Die Mordwaffe wird nicht gefunden. Es könnte ein Säbel sein, vermutet die Polizei, vielleicht auch ein Schwert oder ein Metzgermesser. Im Polizeibericht wird festgestellt: „Lediglich ist zu erkennen, dass es dem Täter aufs Töten angekommen sein dürfte.“
Die Ermittler kommen nicht weiter. Sie können kein Motiv erkennen. Nach sieben Wochen hat der Chef der Mainzer Mordkommission eine für diese Zeit noch ungewöhnliche Idee: Er will ein Täterprofil erstellen. Profiler gibt es in den siebziger Jahren noch nicht, also erhält ein junger Beamter der Mordkommission die Aufgabe, eine Fallanalyse auszuarbeiten. Sorgfältig listet er ungeklärte Fälle auf: Den Mord an den beiden Frauen, zwei Mordanschläge auf eine Studentin im Sommer davor, auch sie wurde in ihrem Schlafzimmer überfallen.
Auch hier liegt kein Sexualdelikt vor, auch hier ist unklar, wie der Täter ins Haus kam. Dazu kommen zehn Vorfälle in der Mainzer Oberstadt. Seit vier Monaten treibt sich dort nachts ein Mann vor den Schlafzimmerfenstern junger Frauen herum. Ein Spanner. Die 19-seitige Analyse kommt zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Spanner um den Mörder handeln könnte. Die Polizei schickt nachts Zivilstreifen los. Nach drei Wochen nehmen sie Klaus Bräunig fest. Er steht vor einem Fenster und beobachtet zwei junge Frauen.
Tagelange Verhöre ohne Anwalt
Bräunig ist da 27 Jahre alt, ein Hilfsarbeiter, der in Mainz bei seiner Mutter lebt. Mit der Polizei hatte er noch nichts zu tun. Klaus Bräunig gesteht sofort, ein Spanner zu sein. „Ich hab nur gelubbert“, sagt er. Mit den Morden an Margot und Dorothee Geimer will er nichts zu tun haben. Auch die zwei Mordversuche an der Studentin im Jahr zuvor bestreitet er. Doch Bräunig wird weiter verhört, jeden Tag, fast pausenlos. Am fünften Tag nach seiner Festnahme gesteht er alles. Ruhig und beherrscht, heißt es in einem Aktenvermerk der Polizei. Erst als ihm die Polizisten seine Aussagen vorlesen, bricht er in Tränen aus. Einen Anwalt hat Bräunig nicht. „Ich hatte kein Geld. Und ich dachte, ich muss den bezahlen.“
Die Polizei braucht aber Sachbeweise wie zum Beispiel die Tatwaffe, die Verhöre gehen weiter. Es war ein Messer der Marke Puma, erzählt Bräunig und beschreibt das Messer, er nennt auch den Ort, wo er es nach dem Mord weggeworfen haben will. Doch die Polizei findet da nichts, ein Messer, wie er es beschreibt, gibt es nicht einmal im Handel. Er will es im Bad der Mordopfer gereinigt haben. Die Polizei bringt ihn dorthin, er soll ihnen das vorführen. Das kann er nicht: Er steht vor dem Waschbecken und weiß nicht, wie er die moderne Mischbatterie betätigen muss. Auch wie er ins Haus gekommen ist, kann er nicht erklären, da wo er hineingeklettert sein will, kommt er nicht hoch.
Zwei Polizisten der Mordkommission sind skeptisch, ob sie den Richtigen haben. Vier Tage nach seinem Geständnis suchen sie ihn im Gefängnis auf und fragen ihn, ob er bei seinen Aussagen bleiben will. Daraufhin widerruft er sein Mordgeständnis, er bleibt dabei, ein Spanner zu sein. Nur aus diesem Grund habe er überhaupt gestanden, sagt er den Polizisten. „Ich hatte gehofft, einen Arzt zu bekommen“, erklärt er das. „Ich wollte davon geheilt werden.“
Wenige Stunden, nachdem er sein Geständnis widerrufen hat, holen ihn die Polizisten, bei denen er gestanden hat, wieder zum Verhör. Er gesteht den Doppelmord zum zweiten Mal und erzählt immer neue Geschichten. Einmal sagt er, er habe zuerst die Tochter getötet, dann sagt er, zuerst die Mutter. Ein andermal sagt er aus, er habe den gestohlenen Revolver in einer Bar verkauft. Dann gesteht er, die Waffe im Wald vergraben zu haben. Die Polizei stellt alles auf den Kopf. Ohne Ergebnis. Überall in der Stadt werden Flugblätter mit Bräunigs Foto verteilt, vierstellige Belohnungen werden ausgesetzt. Wer hat ihn in der Nähe des Tatortes gesehen? Niemand meldet sich. Einen Anwalt hat Klaus Bräunig immer noch nicht. Erst der Mainzer Gefängnispfarrer sorgt dafür, dass Bräunig einen Pflichtverteidiger bekommt. Da ist Bräunig sieben Wochen in Haft und hat schon drei Geständnisse abgeliefert. Er hat sie alle widerrufen.
Zwei Jahre später, im Juni 1972, wird Klaus Bräunig vor dem Landgericht in Mainz wegen Doppelmordes angeklagt. Dem Gericht liegen keine Beweise vor. Die Suche nach Zeugen blieb fruchtlos, die Tatwaffe verschwunden. Blutspuren an Bräunigs Kleidung ließen sich nicht feststellen. Es liegen nur widerrufene Geständnisse vor und die Fallanalyse der Polizei, nach der es sich bei dem Täter „um eine abartige, sexuell gestörte oder verklemmte Persönlichkeit handelt“. Ein Spanner hat sich zum Gewaltverbrecher entwickelt, glaubt auch das Gericht und verurteilt Bräunig.
Ein Urteil, das schon damals umstritten ist. „Ich halte ihn nicht für fähig, einen solchen Mord zu begehen, ohne dass Beweismaterial sichergestellt ist“, wird eine Prozessbeobachterin in der örtlichen Presse zitiert. Auch der Arbeitgeber von Bräunig kann sich das nicht vorstellen: „Niemand in unserem Betrieb würde ihn einer solchen Tat für fähig ansehen“, schreibt er in einem Brief ans Gericht. Denn Bräunig sei zwar fleißig, aber geistig minderbemittelt.
Es kommt vor, dass Menschen Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben. „Falsche Geständnisse entstehen nicht selten durch falsche Vernehmungsmethoden, durch eine zu frühzeitige Annahme der Täterschaft und durch Unterlassen der Verfolgung anderer Spuren“, schreibt dazu der Münsteraner Rechtswissenschaftler Karl Peters. Er hat in Deutschland die erste Untersuchung zu Ursachen von Fehlurteilen durchgeführt und sich mit dem Phänomen des Falschgeständnisses befasst. Auch den Prozess gegen Bräunig hat Peters untersucht, bis zu seinem Tod im Jahr 1998 hat er sich um eine Wiederaufnahme des Falles bemüht. Er war überzeugt davon, dass hier ein Justizirrtum vorliegen muss.
Die Rechtspsychologin Renate Volbert von der Psychologischen Hochschule Berlin forscht zu dem Aussageverhalten von Beschuldigten. Sie sagt, gerade Menschen mit minderer Intelligenz seien gefährdet, Verbrechen zu gestehen, die sie nicht begangen haben. Klaus Bräunig wurde von den Gerichtsgutachtern ein Intelligenzquotient von 73 attestiert. Es fällt ihm schwer, längere Texte zu erfassen. Die von ihm unterschriebenen Geständnisse sind seitenlang, eng getippt, abgefasst im Beamtendeutsch der Polizisten, die sie aufgeschrieben haben. „Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass so, wie niedergeschrieben, kein einfacher, zudem nahezu schwachsinniger Mensch spricht“, schreibt Peters in seinem Gutachten zum Prozess gegen Bräunig.
Doch es lässt sich nicht nachweisen, dass ihm die Geständnisse in den Mund gelegt worden sind. Tonaufnahmen der Verhöre gibt es nicht, auch keine Protokolle, die Fragen und Antworten im Wortlaut wiedergeben. Was Klaus Bräunig tatsächlich gesagt habe, sagt Arnemann, darüber lasse sich spekulieren. Erahnen lässt sich, mit welchen Methoden er verhört wurde. Es wurde auf den Tisch gehauen, gepoltert und herumgeschrien. So erzählt das der damalige Chef der Mordkommission freimütig beim Prozess vor dem Mainzer Landgericht. Selbst für ihn war das anstrengend: „Ich war nach der Vernehmung so fertig, dass ich Formulierungsfehler machte“, erklärt er die Widersprüchlichkeiten in Bräunigs Geständnissen.
Vom Spanner zum Mörder
Zur Frage, ob Bräunigs Geständnisse falsch sein könnten, hat Carolin Arnemann im Zuge des Wiederaufnahmeantrags ein aussagepsychologisches Gutachten vorgelegt. Doch die Chancen, damit eine Wiederaufnahme zu erzwingen, sind nicht hoch, denn die Frage ist nicht neu. Mit ihr hat sich schon das Gericht 1972 befasst. Daran erinnert sich Wolfgang Braunbeck gut. Immer wieder habe Bräunig dem Gericht beteuert, dass er einfach alles unterschrieben habe, um seine Ruhe zu haben.
Braunbeck ist einer der zwei Justizbeamten, die Bräunig damals bei Gericht vorführten. „Wie ein Lämmchen lief er neben uns her, wir brauchten nicht einmal Handschellen.“ Mit gesenktem Kopf habe Bräunig dann auf der Anklagebank gesessen. Das weiß auch Heiner Bögler noch gut, einer der damaligen Geschworenen. Ihm tat der Angeklagte leid. Er habe sich geschämt. All seine Probleme mit der Sexualität seien vor Gericht ausgebreitet, Frauen detailliert zu ihren sexuellen Erfahrungen mit Bräunig befragt worden.
Eine dieser Frauen ist Rita Wagner, sie war im Sommer vor dem Doppelmord mit Bräunig zusammen. Sie sagt: „Er war schüchtern, aber völlig normal.“ Sie kann sich bis heute nicht vorstellen, dass er zu einer Gewalttat fähig ist. Das habe sie damals auch dem Richter so gesagt. Im Urteil liest sich ihre Aussage so: „Die Initiative zu Intimitäten ging nahezu ausschließlich von der Zeugin aus, die den Angeklagten anleitete.“ Seitenlang geht es darum, wie „verklemmt“ er ist, um seine „sexuelle Devianz“, die das Gericht für „die Tat und die Täterpersönlichkeit entscheidend“ hält. Im Alter von dreizehn Jahren sei er noch nicht aufgeklärt worden, „mit sechzehn zum Onanieren gekommen, angeregt durch Lesen und Betrachten von Pornoheftchen“, irgendwann habe er sich unter dem Bett eines Mädchens versteckt, um ihr beim Ausziehen zuzuschauen.
Im Alter von 13 Jahren habe er ein Mädchen unsittlich berührt, angeblich verletzt. Angezeigt wurde dieser Vorfall nie. Seine Bar- und Bordellbesuche werden diskutiert, haarklein wird jeder einzelne Fall, in dem er als Spanner aufgetreten ist, abgehandelt. Ein ungeklärter Überfall auf eine Krankenschwester aus dem Jahr 1966 wird ihm zur Last gelegt, die Mordversuche auf die Studentin im Sommer 1969 – nichts davon ist bewiesen, es ist auch nicht Gegenstand der Anklage. Im Urteil aber wird damit belegt: Bei Klaus Bräunig handelt es sich um einen Mann, dessen Triebhaftigkeit zwangsläufig zum Morden führen musste.
Seit den siebziger Jahren hat sich der Blick auf Sexualität gewandelt. Voyeurismus gilt als eine Störung der sexuellen Präferenz, die in der Regel ungefährlich ist. „Der Voyeur sucht keinen sexuellen Kontakt mit den von ihm beobachteten Personen“, heißt es in medizinischen Fachkreisen. Die Lust bestehe in der heimlichen Beobachtung. Bräunigs Gutachter*innen, die Prognosen zu einem Rückfallrisiko geben, sehen in seinen voyeuristischen Neigungen aber ein Problem: Seine „Angst vor Nähe zu einer Frau stehe in engem Zusammenhang mit der Perversionsbildung und den Aggressionsdelikten“, heißt es noch 1996 in einem psychiatrischen Untersuchungsbericht.
Sechs Jahre später führt diese Sichtweise sogar dazu, dass Haftlockerungen rückgängig gemacht werden. Bräunig ist da 58 Jahre alt, er ist seit sieben Jahren Freigänger und arbeitet in einem Betrieb außerhalb des Gefängnisses. Ihm ist erlaubt worden, eine kleine Wohnung zu mieten. Der Betrieb, in dem er arbeitet, will ihn nach seiner Entlassung fest einstellen, er hat Freunde unter den Kollegen. Die Chancen auf Entlassung stehen gut. Dann finden Vollzugsbeamte Pornohefte in seiner Wohnung. Gelbe Haushaltshandschuhe in der Küche werden sichergestellt, Kabelbinder im Werkzeugkasten –sie führen dazu, dass er zurück muss in den geschlossenen Vollzug. „Die dachten, ich wollte Frauen etwas antun“, sagt Bräunig heute dazu. „Haben die denn keine Handschuhe an beim Putzen?“
Klaus Bräunig ist mittlerweile schwer krank, trotzdem genießt er die Freiheit. Er trifft sich mit den Vollzugsbeamten, die zu Freunden geworden sind. Er telefoniert, wann immer er will, mit früheren Arbeitskollegen und sitzt gerne im Park des Pflegeheims – so nennt er den kleinen Garten. „Ich bin glücklich“, sagt er. „Ich schaue nach vorn.“ Dreiundfünfzig Jahre, zwei Monate und dreißig Tage – so lange hat Klaus Bräunig im Gefängnis gesessen. Sollte seine Rechtsanwältin nachweisen können, dass er zu Unrecht verurteilt wurde, könnte das für das Land Rheinland-Pfalz teuer werden. Klaus Bräunig stünden pro Tag 75 Euro Haftentschädigung zu, das wären 1.458.675 Euro. Doch ums Geld, sagt er, geht es ihm nicht. „Ich weiß, dass ich vom Leben nichts mehr erwarten kann, aber ich will Gerechtigkeit.“
Transparenzhinweis: Die Autorin hat gemeinsam mit Björn Platz das Drehbuch für die vierteilige ARD-Dokumentation „Lebenslänglich“ geschrieben. Sie recherchierte mehr als 30 Jahre an dem Fall.
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