![Porträt von Ibrahim Akkus. Porträt von Ibrahim Akkus.](https://taz.de/picture/7529390/14/37659047-1.jpeg)
5 Jahre nach Hanau-Anschlag: „Was habe ich diesem Land getan?“
Der rechtsextreme Anschlag begleitet Überlebende jeden Tag. Ihre Enttäuschung vom Staat ist groß. Aufgeben wollen sie aber auch 5 Jahre danach nicht.
I brahim Akkuş leidet. Seit fünf Jahren brennt das Licht in seinem kleinen, neun Quadratmeter großen Zimmer ununterbrochen. Denn seit fünf Jahren lebt Akkuş in Angst, gefangen in seinen Erinnerungen an den 19. Februar 2020. „Ich kann diesen Abend nicht vergessen“, sagt er, als er auf seinem Bett in Tränen ausbricht.
An jenem Abend vor fünf Jahren war er, wie so oft zuvor, in der Arena Bar in Hanau. Er stand im Eingangsbereich mit seinem Rollator, wollte seinen Bekannten Gökhan Gültekin treffen. Dann kam der rechtsextreme Täter, schoss achtmal auf ihn. Vermutlich wollte er Akkuş töten. Dass Akkuş überlebte, war reines Glück.
Viele Monate verbrachte Akkuş nach dem Anschlag im Krankenhaus. Vielleicht ist er deshalb in den Medien in Vergessenheit geraten. Heute, fünf Jahre später, geht es dem 69-jährigen Mann nicht gut. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen, sitzt alleine auf seinem Bett, bricht mal in Tränen aus, ist mal voller Wut. Oft kommen die Erinnerungen hoch. Er schreit und schreit. Das stört die Nachbar*innen, die dann die Polizei rufen. Und manchmal überkommt ihn Panik, er ruft nach seiner Frau, weil sein Bein verrutscht ist. „Nein“, antwortet sie auf Kurdisch. „Deine Prothese ist noch da. Alles ist gut.“
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Seine 49-jährige Partnerin und die 19-jährige Tochter erleben sein Leiden jeden Tag. Bewegen kann Akkuş sich kaum noch. Sie müssen ihn windeln. Die Wohnung, die nicht behindertengerecht ist, ist eine große Herausforderung. Sie müssen Akkuş tragen, oft müssen sie ihn auf dem Boden des Badezimmers waschen. Vieles in der Wohnung funktioniert nicht. Doch die Hanauer Baugesellschaft ignoriere ihre Hilferufe, sagt die Familie.
„Ich will nicht mehr leben“
Sara Akkuş trägt, seitdem sie 14 Jahre alt ist, viel Verantwortung. Sie unterstützt ihre Eltern, übernimmt organisatorische Aufgaben, denn sie ist die einzige in der Familie, die gut Deutsch kann. Sie kommuniziert mit den Behörden, stellt Anträge für den Vater und vermittelt zwischen der Familie und der Außenwelt. Sie macht alles gerne, trotzdem fragt sie sich manchmal, „wie das Leben ohne den 19. Februar gewesen wäre.“
Sara Akkuş, Tochter von Ibrahim Akkuş
Eigentlich hätte sie nach der Schule am liebsten eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin gemacht, aber „ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich meine Eltern nicht zu Hause unterstützt hätte“. Seit dem Anschlag hat sich Sara Akkuş Alltag drastisch verändert. „Ich habe mein Zimmer meinem Vater gegeben. Ich schlafe seit fünf Jahren in einem Zimmer mit meiner Mutter“, erzählt sie. Kaum jemand habe die Familie unterstützt – außer der Initiative 19. Februar. „Es leiden nicht nur die Familien der Getöteten, sondern auch die Überlebenden“, beklagt die junge Frau. Auch sie begleitet der 19. Februar weiterhin – besonders, wenn sie dem Vater des Täters in Kesselstadt begegnet. Ihren Vater aus ihrer Kindheit vermisst sie: „Mein Vater war sehr aktiv. Er hat uns Frühstück gemacht, alles für uns gemacht.“ Nun macht sie alles für ihn.
„Ich werde verrückt, wenn ich an meine alten Tage denke“, sagt Ibrahim Akkuş. „Ich war ein starker Mann, ein Bauarbeiter, der sein eigenes Geld verdient hat“, erzählt er. Und nun? „Ich bin ein Mensch, der nichts kann.“ Wann er das letzte Mal seine Wohnung verlassen konnte, weiß er nicht mehr. Am meisten schmerzt ihn der Gedanke, dass er das Leben nicht mehr wirklich genießen kann: „Im Krankenhaus nach dem Anschlag habe ich zu den Ärzten gesagt: Bitte gebt mir eine Giftspritze, ich will nicht mehr leben.“
Der 19. Februar 2020 war nicht das erste Mal, dass Akkuş mit rechtem Terror konfrontiert wurde. Mit Anfang 20 floh er mit seinem Bruder aus Diyarbakır. Als Kurden waren sie in der Türkei gefährdet. Sie beantragten Asyl in Hanau – doch sein Bruder wurde abgeschoben. Und: Wenig später wurde der damals 19-Jährige in der Türkei vor seiner Haustür von türkischen Rechtsextremisten ermordet.
Seit über 40 Jahren lebt Akkuş in Hanau. Er hat Deutschland nicht verlassen, auch um sich und seine Familie zu schützen. „Ich dachte, das ist ein demokratisches Land. Niemand würde uns umbringen.“
Jeden Tag auf der Suche nach Gerechtigkeit
Auf die Frage, wie es ihr geht, muss auch Dijana Kurtović erst schlucken. Dann sagt die 51-Jährige langsam: „Ich muss.“ Am 19. Februar 2020 verloren sie und ihr Mann ihren 22-jährigen Sohn Hamza. Nicht nur die Bilder von Hamza, die überall in ihrer Wohnung hängen, prägen den Alltag der Kurtovićs, auch der unermüdliche Kampf um Aufklärung.
Jeder Tag bei den Kurtovićs dreht sich um die Suche nach Gerechtigkeit: Sie führen Telefonate mit Journalist*innen, Gespräche mit Politiker*innen, sie suchen nach Zeug*innen, werben um Spenden für die Verfahrenskosten, nehmen Termine bei Anwält*innen wahr. Immer wieder diskutieren sie die nächsten Schritte – wie es weitergeht, wie sie weitermachen können. „Es kostet Gesundheit, es kostet Energie, es kostet Nerven, es kostet alles“, sagt Dijana Kurtović. „Man hat uns unsere Kinder weggenommen. Und auch unser Sicherheitsgefühl.“
Armin Kurtović, der Vater von Hamza Kurtović, versucht stark zu bleiben. Seit fünf Jahren scheut er keine Bühne, keine Gespräche in der Öffentlichkeit. Seine Entschlossenheit ist für jeden sichtbar. Zusammen kämpft das Paar für den Sohn. Zwei Jahre lang haben sie den Untersuchungsausschuss beobachtet, immer wieder auf Behördenfehler aufmerksam gemacht. Neulich reichten sie eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Hanau ein – wegen fahrlässiger Tötung und Strafvereitelung.
Doch man fragt sich, trotz der großen Enttäuschung, woher sie die Kraft nehmen, weiter zu kämpfen. „Wir haben noch Hoffnung. Und wir wollen nicht, dass es wieder passiert“, sagt Dijana Kurtović. Aber auch ihre Hoffnung hat Grenzen. Die Familie erwartet bald ein Enkelkind. Doch die Freude darüber wird von Angst überschattet. „Es ist schwer, sich nach all dem zu freuen“, sagt Dijana Kurtović. „Immer kommt die Frage: Wie soll ich in diesem Land noch ein Kind großziehen?“
Enttäuschung über die Behörden und Sicherheitsbedenken überwiegen bei der Familie Kurtović. „Wenn ich ehrlich bin, kann ich das alles in diesem Land nicht mehr“, sagt Armin Kurtović. „Ich will weg aus Deutschland.“ Vielleicht nach Österreich oder in die Schweiz. Auch seine Frau teilt diesen Gedanken. „Unsere Kinder kennen nichts anderes als Deutschland“, sagt sie. „Aber gleichzeitig ist es unsicher hier für sie. Wir haben Angst.“
Hoffnung auf ein besseres Leben
Nicht nur die Kurtovićs kämpfen um die Wahrheit. Auch Niculescu Păun setzt alles daran, dass der Anschlag vollständig aufgeklärt wird. Der Vater von Vili-Viorel Păun hatte Anfang Januar Anzeige gegen leitende Polizisten gestellt, die am Abend des Anschlags im Einsatz waren. Doch kurz darauf wurden die Ermittlungen eingestellt. Damit scheint die letzte Chance vor der Verjährung auf Gerechtigkeit für seinen Sohn vorerst vertan.
Niculescu Păun kam 2015 aus Rumänien nach Hanau, voller Hoffnung auf ein besseres Leben. Er arbeitete in einer Logistikfirma und holte kurz darauf seinen Sohn nach Deutschland. Vili-Viorel lernte schnell Deutsch, war sehr ambitioniert und voller Freude. „Mein Sohn war sehr zufrieden hier in Deutschland“, sagt Păun. „Er war verliebt, er war glücklich.“ Der Vater betont immer wieder, wie stolz er ihn machte – bis zu seinem letzten Moment. „Mein Sohn ist weg und wir sind alle hier allein gelassen.“
Heute sitzt Niculescu Păun oft in den Räumen der Initiative 19. Februar. Seine Worte wählt er mit Bedacht. „Mein Deutsch ist nicht gut, ich habe nicht studiert“, sagt er. Dann schweift sein Blick ab, und er erinnert sich an sein einziges Kind: „Mein Sohn hat aber studiert.“ Doch mit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen einzustellen, scheint ein weiterer Funken Hoffnung für die Familie erloschen zu sein. „Ich habe für meinen Sohn gekämpft, und ich werde weiter kämpfen“, sagt er. „Diese Ungerechtigkeit kann ich nicht akzeptieren.“
Seit dem Anschlag können Niculescu Păun und seine Frau nicht mehr arbeiten. Sie sind gesundheitlich schwer angeschlagen. „Uns geht es gar nicht gut“, sagt er. „Wir schlafen kaum noch, wir haben seit dem 19. Februar viele Krankheiten bekommen.“ Besonders schwer wiegt der Vertrauensverlust. „Wir haben unser Vertrauen in die Polizei verloren“, sagt Păun. „Sie sollten die Garantie für unsere Sicherheit sein, aber mein Sohn konnte sie nicht einmal erreichen.“ Trotz allem will er nicht aufgeben. „Wenn wir die Situation einfach so akzeptieren, sollten wir uns nicht wundern, wenn der nächste Anschlag passiert.“
Damit es nicht zu einem weiteren Anschlag kommt, kämpft auch Newroz Duman seit fünf Jahren an der Seite der Betroffenen für Aufklärung. Die 35-jährige Sprecherin der Initiative 19. Februar arbeitet unermüdlich dafür. „Fünf Jahre Hanau bedeuten auch fünf Jahre Selbstorganisation der Angehörigen, fünf Jahre Ermittlungen der Angehörigen, Recherchen der Angehörigen, Strategien entwickeln und Pressearbeit“, sagt Duman.
„Wir müssen weitermachen“
Die Initiative hatte in den vergangenen Jahren viele Ungereimtheiten mit den Opferangehörigen selbst ans Licht gebracht. Bestes Beispiel ist der verschlossene Notausgang und auch zum Notruf, der nicht durchkam, gibt es bis heute noch viele Fragen. Immer wieder habe man gedacht, die Behörden zur Verantwortung ziehen zu können, doch jedes Mal gab es Enttäuschungen.
„Du rennst und rennst und rennst und trägst die ganze Verantwortung, die der Staat eigentlich tragen müsste. Und sobald es gegen die Sicherheitsbehörden geht, kommst du einfach nicht durch diese dicke, dicke, dicke Mauer“, erzählt sie. Für sie ist das eine politische Entscheidung. „Wir kämpfen für Gerechtigkeit in einem Rechtsstaat, der nicht in der Lage ist, diese Gerechtigkeit herzustellen.“
Mit dem fünften Jahrestag drohen nun Verjährungsfristen in vielen Verfahren, dabei gewinnen rechte Parteien in Deutschland zunehmend an Einfluss. Auf die Frage, ob sie sich Sorgen um die Zukunft der Initiative macht, antwortet Duman mit einem klaren Nein. „Wenn man versteht, dass selbstorganisierte Kreise sich nie auf den Staat verlassen haben oder auf solche Strukturen, weiß man auch, dass dies nicht unsere erste Sorge ist.“ Für sie, wie auch für viele Angehörige, bleibt trotz der Enttäuschungen der vergangenen fünf Jahre in Hanau eines sicher: „Es gibt keine Alternative. Wir müssen weitermachen.“
Weiterzumachen fällt Ibrahim Akkuş enorm schwer. Die Frage, die ihn mit am meisten umtreibt: „Was habe ich diesem Land getan? Das ist doch auch unsere Heimat.“ Noch unerträglicher für Ibrahim Akkuş ist das Gefühl, vergessen zu werden.
„Niemand ruft mich an. Niemand fragt, wie es mir geht“, sagt er flüsternd. „Ich leide hier.“
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