5 Jahre nach Attentat: Halle gedenkt Opfer des Anschlags
Bundespräsident Steinmeier und Ministerpräsident Haseloff nehmen an der Gedenkfeier teil. Viele Betroffene kämpfen weiterhin um Anerkennung.
Heute zieren das Schaufenster links vom Eingang gemalte Blumen mit blauen und violetten Blüten. In weißer Schrift steht daneben: „Wir erinnern“. Von den Hakenkreuzschmierereien, die am Vortag in der Nähe entdeckt worden waren, ist nichts mehr zu sehen. Tekin nimmt noch einen Schluck Tee. Er arbeitete damals im Kiez-Döner. Als damals die Schüsse im Kiez-Döner fielen, war er zwei Straßen weiter etwas einkaufen, rannte aber sofort zurück und geriet in einen Schusswechsel zwischen Polizei und dem Täter. Der schoss auf Tekin, aber er blieb unverletzt.
Dem Bundespräsidenten sei er noch nie begegnet. „Dass Herr Steinmeier uns besucht, sich Zeit nimmt, zeigt uns, dass er uns ernst nimmt“, erzählt Tekin. „Das ist der schönste Moment seit fünf Jahren.“
Auf dem Boden vor dem Tekiez liegen schon einige Gedenkkränze und Kerzen, dazwischen blitzt noch eine Metalltafel durch, die in den Boden eingelassen wurde. Sie erinnert neben Kevin S. auch an die damals vom Attentäter getötete Jana L. und „die weiteren Opfer des antisemitischen Terroranschlags am Jom Kippur 5780“.
Ein Tag, der viele Leben verändert
Der 9. Oktober fiel 2019 ebenfalls auf einen Mittwoch. Es war ein Tag, der für viele das Leben komplett veränderte. Wenige Minuten bevor der Terrorist auf die Betreiber und Gäste des Kiez-Döners schoss, hatte er versucht, die nahegelegene Synagoge zu stürmen. Dort feierten mehr als 50 Menschen Jom Kippur – den höchsten jüdischen Feiertag.
Sie alle wollte der Täter mit selbst-gebauten Waffen und Sprengsätzen töten. Minutenlang schoss er auf die Tür, warf Brandsätze. Die Tür hielt ihm stand. Doch Jana L., eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbeiging, erschoss der Täter. Polizei war damals keine in der Nähe.
Am Mittwoch fünf Jahre später scheint die Sonne über Halle. Es ist halb elf. Vor der Synagoge ist ein halbes Dutzend Gedenkkränze aufgereiht. Die Polizei hat die Straße gesperrt, trotzdem kommen vereinzelt Menschen und legen Blumen oder Kerzen vor der Mauer ab.
Gegen Mittag erreicht Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) die Synagoge. Gemeinsam mit Gemeindevorsteher Max Privorozki begutachtet er die Gedenkkränze. Haseloff macht einen Schritt nach vorne, zupft ein Band zurecht und geht dann in den Innenhof.
Unterstützung aus München und Halle
Kurz darauf kommt İsmet Tekin, legt einen grünen Kranz ab, bleibt kurz andächtig stehen und geht dann ebenfalls durch die offene Tür. Ihm folgen weitere Überlebende und Hinterbliebene – nicht nur aus Halle. Auf T-Shirts sind die Opfer der rechtsextremen Terroranschläge in München und Halle zu sehen.
Um 12.03 Uhr beginnen alle Kirchen in Halle zu läuten. Zu der Zeit fielen vor fünf Jahren die ersten Schüsse. Im Innenhof der Synagoge beginnt Haseloff mit seiner Gedenkrede. Die Tat von damals zeige „Muster und Einstellungen, die sich in unserer Gesellschaft auf erschreckende Weise verbreiten.
Dies hat sich in ganz Deutschland leider auch in den Jahren nach dem Anschlag deutlich gezeigt“, sagte er und spricht zum Ende noch einen Appell aus: „Möge das Andenken an die Opfer uns immer daran erinnern, dass der Kampf gegen den Hass niemals enden darf.“
Für viele der Überlebenden und Hinterbliebenen war die Zeit nach dem Terroranschlag allerdings auch ein Kampf um Anerkennung. Tekin sagt der taz erst kürzlich im Interview: „Die Stadt hat uns viel weniger unterstützt, als sie versprochen hat.“
Kampf um Anerkennung
Dagmar M. und Jens Z., die der rechtsterroristische Täter kurz darauf auf seiner Flucht im nahegelegenen Wiedersdorf anschoss und schwer verletzte, schreiben auf Instagram, sie müssten sich seitdem immer wieder für ihre Verletzungen rechtfertigen. Außerdem kämpften sie darum, dass es ihnen „finanziell nicht schlechter geht als vor dem Anschlag“.
Nach der Gedenkveranstaltung in der Synagoge kommt Reiner Haseloff um kurz vor drei Uhr zum Tekiez. Wieder ist viel Polizei vor Ort. Haseloff gibt Tekin kurz die Hand und posiert neben ihm für ein Foto. Dann warten sie auf den Ehrengast: Bundespräsident Steinmeier. Der fährt etwa fünfzehn Minuten später vor und bleibt für eine halbe Stunde, bevor er weiter zur Synagoge fährt.
Später appelliert Steinmeier in seiner Rede bei der offiziellen Gedenkfeier der Stadt, die Gesellschaft solle gemeinsam erinnern und der Gefahr der Radikalisierung entgegentreten. „Wir sind nicht machtlos“, sagt er.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, forderte mehr Einsatz für die Menschenwürde und Respekt vor verschiedenen Religionen und unterschiedlicher Herkunft.
Am Abend ist vor dem Gedenkort Tekiez noch eine Kundgebung geplant. Sie beginnt nach dem Redaktionsschluss der taz. Aber bei ihr soll es nicht nur ums Erinnern gehen, sondern auch darum, dass Gesellschaft und Politik bei Antisemitismus, Misogynie und Rassismus zu oft wegsehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin