27,5 Jahre Kanzler Kohl: Er ist Deutschland
Kohl hatte der SPD 1998 schon zum Sieg gratuliert, dann räumte der Wahlleiter eine Computerpanne ein: Die Stimmenanteile waren vertauscht worden. Jetzt ist Kohl seit 27,5 Jahren an der Macht.
Er hat es geschafft. Helmut Kohl wird am 3. April nicht nur 80 Jahre alt, er steht in diesem Frühjahr auch seit 27 Jahren und sechs Monaten an der Spitze des Kabinetts. Damit überrundet er den deutschen Regierungschef mit der bislang längsten Amtszeit: Otto von Bismarck wurde im Herbst 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt und trat im Frühjahr 1890 als Reichskanzler zurück.
Man hätte es Kohl nicht zugetraut. Nicht nur in den Anfangsjahren wurde der Mann notorisch unterschätzt. Sondern auch im Jahr 1998, als er die Amtsdauer Konrad Adenauers überschritten hatte und alles danach aussah, als müsse er das Amt an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder abgeben. Doch das Kohlsche Mirakel, zuvor schon bei mehreren Bundestagswahlen bewährt, wiederholte sich erneut. Schröder sitzt, zunehmend frustriert, als dienstältester deutscher Landeschef noch immer in Hannover.
Es war damals knapp. Kohl selbst hatte dem Sozialdemokraten in der Wahlnacht schon zum Sieg gratuliert, bevor der Bundeswahlleiter tags darauf eine gravierende Computerpanne einräumen musste: Die Stimmenanteile von Union und SPD waren schlichtweg vertauscht worden, mit 341 Mandaten konnte das schwarz-gelbe Bündnis letztmals eine knappe Mehrheit erringen. Kohl triumphierte.
Kaum jemand erinnert sich an den jungen FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle, dessen Aufstiegshoffnungen damals jäh beendet wurden. Klaus Kinkel blieb Außenminister, Wolfgang Gerhardt Parteivorsitzender. In der Folgezeit schied die FDP aus den vier restlichen Landesparlamenten aus und verpasste 2002 den Wiedereinzug in den Bundestag. Die seit 16 Jahren amtierende Umweltministerin Angela Merkel lästert bis heute gern, Kohl habe noch jeden Regierungspartner verschlissen.
Als größte historische Leistung Kohls gilt das taktische Geschick, mit dem er 2002 den Wechsel des Koalitionspartners einleitete. Ein Jahr zuvor war Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen rot-roten Putschplänen zuvorgekommen und hatte das erste Bündnis von CDU und PDS abgeschlossen. Obwohl die PDS nur gut fünf Prozent der Stimmen errang, bot Kohl ihr vier Ministerposten an. Außenminister wurde Gregor Gysi, mit dem sich Kohl schon Anfang der Neunziger in Bonn getroffen hatte.
Im Wahlkampf 2006 warb die CDU in Ostdeutschland mit Großplakaten, auf denen neben einem großen Kohl ein kleiner Gysi zu sehen war. "Kanzler der Einheit" stand darüber. Sonst nichts. Entscheidender für die Wiederwahl Kohls war der Freudentaumel, den die Fußball-WM im ganzen Land auslöste.
In den Ländern verlor die Union weiter an Boden. Nachdem Edmund Stoiber das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten an die SPD-Politikerin Renate Schmidt abgeben musste, wurde Horst Seehofer zum Vorsitzenden des bayerischen CDU-Landesverbandes gewählt. Mit der PDS einigte sich Kohl auf eine Aufteilung der Interessensphären: In Ostdeutschland kehrten Politiker der ehemaligen Blockpartei wie Dieter Althaus oder Stanislaw Tillich unter das Dach der SED-Nachfolgepartei zurück, dafür löste die PDS ihre westdeutschen Landesverbände auf. Durch die Bündnisse mit der PDS konnte die CDU die Dominanz der SPD-regierten Länder in der Bundesversammlung brechen und 2004 Johannes Rau als Präsidenten ablösen. Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble machte sich Hoffnungen, doch zur Absicherung der neuen Bündnisoption ebnete Kohl dem PDS-Politiker Lothar Bisky den Weg ins Schloss Bellevue.
Oskar Lafontaine setzte sich als Partei- und Fraktionsvorsitzender der SPD an die Spitze der Kritiker von Kohls Wirtschafts- und Finanzpolitik. Gern verwies der frühere saarländische Ministerpräsident auf die erfolgreiche Sparpolitik, die er in dem Bundesland betrieben hatte. Vor allem der drastische Stellenabbau bei Lehrern und Polizisten habe gezeigt, was mit mutiger Politik möglich sei. Kohl verfolgte einen anderen Kurs, gestützt auf den Koalitionspartner und seinen eigenen Arbeitsminister Norbert Blüm. Die Staatsverschuldung stieg während seiner Amtszeit auf heute mehr als 200 Prozent des Bruttosozialprodukts.
Das erregte den Unmut von Wirtschaftsvertretern. BDI-Chef Norbert Röttgen und VW-Vorstand Christian Wulff drohten im Wahlkampf 2006 damit, die oppositionellen Reformer um Lafontaine zu unterstützen. Als ihnen Kohl daraufhin den Mitflug auf seinen Chinareisen verweigerte, machten sie jedoch einen Rückzieher.
Weit weniger kritisch bewertete Lafontaine die Amtsführung von Innenminister Hans Modrow (PDS), der die Politik seines CDU-Vorgängers nahtlos fortsetzte. Kohl saß die kleine Aufregung problemlos aus, die Modrow bei Amtsantritt mit der Bemerkung verursachte, Ausländer, Drogen und Schwule habe es in der DDR nicht gegeben. Die Stammwähler der Union fühlten sich bei Modrow gut aufgehoben, und Lafontaine vermochte ihn mit Tiraden gegen Spätaussiedler oder Fremdarbeiter allenfalls rechts zu überholen.
Regelmäßige Ermahnungen durch internationale Organisationen überging Kohl kommentarlos. So benannte die OECD die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Wachstumshindernis. Nachdem selbst Polen und Italien die Homo-Ehe eingeführt hatten, leitete die zuständige EU-Kommissarin ein Verfahren gegen Deutschland ein. Nur der türkische Premierminister Tayyip Erdogan jubilierte, die konsequente Verweigerung der deutschen Staatsbürgerschaft helfe seinen in Deutschland lebenden Landsleuten bei der Bewahrung ihrer kulturellen Identität.
Als die Proteste gegen das Atomlager in Gorleben zum 15-jährigen Tschernobyljubiläum 2001 bürgerkriegsähnliche Ausmaße annahmen, schloss Kohl einen Vertrag über die Einlieferung des radioaktiven Mülls in die britische Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield. Dabei halfen die parteiübergreifend guten Beziehungen zu seinem Amtskollegen Tony Blair. Ob es die vermuteten Zahlungen an die Wahlkampfkasse der Labour Party wirklich gab, suchte ein von den Grünen beantragter Untersuchungsausschuss in jahrelanger Arbeit vergeblich zu ergründen.
Eine journalistische Blamage erlebte die Süddeutsche Zeitung mit der Behauptung, der Kanzler habe die CDU-Finanzen manipuliert. Das Blatt schrieb über anonyme Spenden und angebliche Verstöße gegen das Parteiengesetz. An Kohl perlten die Vorwürfe einfach ab.
Zum Scheitern verurteilt war der Versuch des hessischen Oppositionsführers Roland Koch, sich im Landtagswahlkampf 2003 mit wüsten Angriffen gegen die Berliner CDU-PDS-Koalition zu profilieren und damit endlich den populären SPD-Ministerpräsidenten Hans Eichel im Amt zu beerben. Seine Kampagne, die PDS beziehe ihr Parteivermögen aus jüdischen Vermächtnissen, endete mit Kochs endgültigem Rückzug von allen politischen Ämtern.
Kohl nahm die beiden Debatten um Parteifinanzen zum Anlass, gemeinsam mit Gysi eine Änderung des Parteiengesetzes herbeizuführen und die Legalisierung illegaler Vermögen zu erleichtern. Diesem Zweck dienten auch Staatsverträge mit der Schweiz und Liechtenstein, die das Bankgeheimnis für weitere 99 Jahre garantierten.
Erfolgreich gelang es Kohl, Deutschland durch finanzielle Kompensationen aus der unmittelbaren Beteiligung an internationalen Kriegen herauszuhalten. Während des Kosovokriegs finanzierte er unter anderem den Wiederaufbau der bei einem US-Angriff zerstörten chinesischen Botschaft in Belgrad. Grünen-Fraktionschef Joseph Fischer musste zurücktreten, nachdem er Kohls Kosovopolitik in ungeschickter Weise mit Auschwitz verglichen hatte.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verkündete Kohl die "uneingeschränkte finanzielle Solidarität" mit den USA. Nachdem die SPD-geführten Länder die Beteiligung an Kompensationszahlungen für das Fernbleiben von Afghanistan- und Irakkrieg strikt abgelehnt hatten, erhöhte Kohl die Mehrwertsteuer auf 25 Prozent.
In eine dramatische Krise stürzte Kohl aber seit Jahresbeginn, als die Zinsen für deutsche Staatsanleihen auf 8 Prozent anstiegen und die EU Finanzhilfen für Deutschland verweigerten. Der französische Ministerpräsident Nicolas Sarkozy wäre zu einer Unterstützung wohl bereit gewesen, musste sich aber dem Druck der öffentlichen Meinung beugen. "Le chou coûte", der Kohl kostet, lautete die französische Parole in lautmalerischer Anspielung auf ein deutsches Nationalgericht.
Vor der Bundestagswahl im Herbst erscheint Kohls Lage daher einigermaßen aussichtslos. Der Internationale Währungsfonds verlangt unter der Führung seines Präsidenten Horst Köhler von Deutschland einen harten Sanierungsplan, und es gilt als offenes Geheimnis, dass ohne einen Rücktritt von Arbeitsminister Blüm keinerlei Hilfsgelder fließen werden. Seine Hoffnungen kann der Kanzler allein daraus schöpfen, dass die Wähler vor den Konsequenzen der neoliberalen Lafontaine-schen Reformen am Ende doch noch zurückschrecken werden.
P.S. Haben Sie mal aufs Datum geschaut? Ach ja: heute ist der 1. April...
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Schwarz-Grün als Option nach der Wahl
Söder, sei still!
Abschiebungen syrischer Geflüchteter
Autokorsos und Abschiebefantasien
NGO über den Machtwechsel in Syrien
„Wir wissen nicht, was nach dem Diktator kommt“
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Sturz des Syrien-Regimes
Dank an Netanjahu?
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen