24-Stunden-Pflege zu Hause: Häusliche Notgemeinschaft
Mindestlohn für die 24-Stunden-Pflege ist nicht die Lösung. Es braucht neue Regeln, die BetreuerInnen, aber auch Pflegehaushalten gerecht werden.
D ie Jubelrufe zum Urteil lösen in manchen Pflegehaushalten Beklemmungen aus. Das Bundesarbeitsgericht hat geurteilt, dass in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn haben – auch für den „Bereitschaftsdienst“. Als Bereitschaftsdienst gilt, wenn die Betreuungskraft im Haushalt mitwohnt und dabei rund um die Uhr verfügbar ist.
Im Klartext bedeutet das, dass die im Haushalt mitwohnende Betreuungskraft bei einer nahezu 24-Stunden-Bereitschaft zum Stundenlohn von 9,60 Euro auf einen Bruttolohn von fast 7.000 Euro im Monat kommen müsste. Das kann kaum ein Pflegebedürftiger bezahlen.
Als „wegweisend und richtig“ bezeichnete Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) das Urteil. Der Deutsche Gewerkschaftsbund sprach von einem „Paukenschlag“ gegen „ausbeuterische Geschäftsmodelle“.
Wer eine durch einen Schlaganfall gezeichnete Mutter oder einen Vater hat, die zu Hause durch eine Betreuerin aus dem EU-Ausland versorgt wird, bekommt bei diesen Lobreden Schweißausbrüche. Schätzungsweise mehr als 300.000 pflegebedürftige Menschen werden von ausländischen HelferInnen zu Hause betreut. Dabei spielt das Lohngefälle zwischen den EU-Ländern Richtung Osten eine Rolle. Es stimmt aber nicht, dass es sich hier immer um schlimmste Ausbeutungsverhältnisse handelt. Die häusliche Betreuung ist vielmehr eine Notgemeinschaft der Schwachen.
Die mitwohnenden Betreuerinnen können durchaus selbst bestimmen, ob und wie sie arbeiten möchten. Die Frauen (und wenige Männer) bleiben in der Regel ein bis drei Monate und gehen dann wieder im sogenannten Wechselmodell für eine Weile in die Heimat zurück. Dabei macht es einen Unterschied, ob die BetreuerInnen aus einem EU-Land kommen oder als Illegale ohne Arbeitsvisum aus einem Drittstaat.
Die Situationen vor Ort sind zudem sehr unterschiedlich: Es gibt SchlaganfallpatientInnen, die nachts durchschlafen. Sie brauchen jemanden im Haus, der beim Waschen, beim Anziehen, beim Toilettengang, beim Essen hilft, vielleicht einen Spaziergang macht. Hat die Betreuerin dann Sozialversicherungsschutz im Herkunftsland, hat sie, wie heute von Vermittlungsagenturen verlangt, ein eigenes Zimmer mit WLAN-Anschluss zum Skypen mit der eigenen Familie, jeden Tag etwas Freizeit ohne Bereitschaft, jede Woche mindestens einen Tag frei und nach acht Wochen wieder eine lange Pause in der Heimat, helfen die Angehörigen der Pflegebedürftigen mit, dann ist der Deal okay für alle Beteiligten.
Oft aber läuft es anders: Verwirrte SeniorInnen, die nachts umherirren, und Familien, die eine billige Putzfrau und Köchin suchen und sich vor Ort nicht blicken lassen, Betreuerinnen, die ohne Vernetzung und ohne Sprach- und Vorkenntnisse in einen solchen Haushalt geraten sind. Eine baldige Abreise können sich jedoch nur Betreuerinnen aus einem EU-Land leisten, die Deutsch sprechen und sich ihre KundInnen aussuchen können. Wer aus Drittstaaten wie der Ukraine kommt und illegal in Deutschland arbeitet, hat es hingegen schwerer.
Heikel ist die Care-Arbeit dennoch für alle: Die Abgrenzung von Arbeits- und Ruhezeiten ist ein Problem, auch die hohen Summen, die Zeitarbeitsfirmen und Vermittlungsagenturen verlangen. Bei einem Unternehmen, das freiberufliche Pflegerinnen vermittelt, werden 2.500 Euro im Monat vom KundInnen verlangt, die oder der Pflegende bekommt nur 1.600 Euro und muss davon noch die Alterssicherung und einen Teil des Krankenversicherungsschutzes bezahlen. 90 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse, schätzen Experten, seien ohnehin Schwarzarbeit mit den verschiedensten Konstruktionen vom scheinbaren Minijob bis zu direkter Barzahlung.
Sonderstatus für selbständige BetreuerInnen
Man kann diese Care-Arbeit insgesamt verdammen. Aber das globale Jobnomadentum nimmt zu und der Bedarf an Hilfskräften in Haushalten ebenso, bedingt durch die Demografie und die doppelte Erwerbstätigkeit in vielen Familien, die noch dazu fern der alten Eltern leben. Hunderttausende Pflegebedürftige in Heimen zu betreuen, die ja auch 2.000 Euro Eigenanteil verlangen, wäre zudem wegen des Heimplatzmangels gar nicht machbar.
Es wäre mutig, einen politischen Regulierungsversuch zu wagen, der Pflegenden und Pflegehaushalten einen Mindestschutz gewährt und die Aktivitäten der teuren Vermittlungsagenturen zumindest teilweise überflüssig macht. In einem Gutachten schlug der Arbeitsrechtsexperte Gregor Thüsing von der Universität Bonn vor, für die BetreuerInnen per Gesetz einen Sonderstatus zu schaffen. Als „Selbstständige“, aber mit Sozialversicherungsschutz, zumindest Rentenversicherungspflicht. In Polen und Österreich gibt es bereits Konstruktionen der „arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen“ für die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft. Agenturen vermitteln in Deutschland bereits viele „Selbstständige“ aus dem EU-Ausland in Pflegehaushalte, für sie gilt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts nicht.
Ein Gesetz über einen arbeitnehmerähnlichen Selbstständigenstatus könnte Bestimmungen zu Ruhezeiten und Beschäftigungsperioden in einem Haushalt beinhalten. Die Pflegebedürftigen sollten für das Honorar dieser Betreuerinnen auch die Sachleistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen können.
Ein solcher Vorstoß wäre sicher umstritten. Die Politik verschließt daher lieber die Augen, und die Schwarzarbeit boomt. Man kann aber nicht nur auf die Einhaltung von Normen pochen und in der Realität dann Tausende von Betroffenen, Pflegehaushalten und potenziellen Betreuungskräfte im Graubereich allein lassen. Neue Normen für bestimmte Situationen – dafür braucht es politischen Mut: die Bereitschaft, sich mit vielen Seiten anzulegen.
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