21 Jahre Völkermord in Ruanda: Harte Kritik an Frankreichs Rolle
Ein offener Brief fordert den französischen Präsidenten auf, sich endlich der Verantwortung des Landes für den Völkermord in Ruanda zu stellen.
BERLIN taz | In Ruanda wird ab Dienstag des Völkermordes gedacht, bei dem zwischen April und Juli 1994 über 800.000 Menschen, zumeist Tutsi, von Hutu-Milizen und den damaligen ruandischen Streitkräften getötet wurden. In Ruandas Hauptstadt Kigali wird am 7. April zum Beginn einer Zeremonie eine Flamme der Erinnerung angezündet.
„Wir bitten die Welt, sich gegen Völkermordleugnung zu stellen und den unglaublichen Mut jener zu würdigen, die damals Opfer retteten“, heißt es im offiziellen Aufruf zu den Gedenkfeiern. Der Völkermord wurde 1994 beendet, als Tutsi-Rebellen unter dem heutigen Präsidenten Paul Kagame Ruanda eroberten und die Hutu-Milizen und -Soldaten in den benachbarten Kongo vertrieben.
Ruandas Botschaften weltweit organisieren ebenfalls Gedenkveranstaltungen. In Deutschland gibt es am 9. April einen Gottesdienst in Berlin, dazu Veranstaltungen vor allem in Rheinland-Pfalz, das eine Länderpartnerschaft mit Ruanda unterhält.
Zu den Teilnehmern der Feiern in Ruanda gehört auch eine Gruppe französischer Jugendlicher, die Frankreichs Unterstützung des Völkermords vor 21 Jahren anprangert. In einem Offenen Brief an Frankreichs Präsident Francois Hollande, der nachfolgend dokumentiert ist, rufen sie dazu auf, die Wahrheit über Frankreichs Rolle in Ruanda damals zu sagen.
Ruanda wirft Frankreich vor, die Hutu-Völkermordmilizen ausgebildet und die damaligen ruandischen Streitkräfte auch während der Massaker ausgerüstet zu haben. Französische Militärs in Ruanda sollen sich auch an einzelnen Massakern beteiligt haben. Frankreich weist diese Vorwürfe zurück, hat jedoch „Fehler“ in Ruanda eingestanden. Aus den internationalen Gedenkfeiern in Kigali zum 20. Jahrestag des Völkermords vor einem Jahr hatte sich Frankreich kurzfristig zurückgezogen.
Mehr Infos: www.kwibuka.rw
Dokumentation des Offenen Briefes
Sehr geehrter Herr Präsident,
am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts und des Völkermords an den Roma, waren Sie an der Shoah-Gedenkstätte und im KZ Auschwitz. Ihre Anwesenheit war richtig. Am 24. April, dem Gedenktag zum 100. Jahrestag des armenischen Völkermordes, werden Sie in Jerewan sein. Zweifellos werden Sie erneut die angemessenen Worte finden.
Am 7. April, dem Tag des Gedenkens an den Völkermord gegen die Tutsi in Ruanda 1994, der zwischen April und Juli eine Million Tote hinterließ, werden Sie nicht da sein. Sie werden nicht von der Wahrheit sprechen. Sie werden nicht den Weg der Klärung betreten, den Ihr Vorgänger eingeschlagen hatte, als er über die „schweren Irrtümer“ und die „Blindheit“ vor allem Frankreichs in Ruanda sprach und die Völkermordkammer am Hohen Gericht von Paris gründete. Seit 21 Jahren beherrscht das Schweigen den offiziellen französischen Diskurs; ein Schweigen, das vor einem Jahr zur Absage der offiziellen Anwesenheit Frankreichs beim Gedenken zum 20. Jahrestag des Völkermordes führte.
Herr Präsident: Wieso so unterschiedliche Umgänge mit diesen Völkermorden, diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit die uns alle angehen? Wieso das Schweigen? Nicht die Wahrheit, sondern das Schweigen entehrt unser Land.
Nicht „Frankreich“ steht beim Völkermord gegen die Tutsi am Pranger, sondern eine Handvoll Menschen, Rechte wie Linke, die während der zweiten Amtszeit von Francois Mitterrand höchste Ämter innehatten. Gewisse Individuen verfolgten eine geheime Politik, spielen weiterhin eine politische Rolle und sind bis heute in unseren Institutionen präsent. Diese Politik wurde nie im Parlament und noch weniger in der Öffentlichkeit diskutiert; sie bestand in einer politischen, diplomatischen und militärischen Unterstützung aus Paris für Ruandas extremistische „Hutu Power“ - deren rassistischer, totalitärer und genozidaler Charakter dem französischen Staatsapparat bekannt war - vor, während und nach dem Völkermord.
Diese Tatsachen sind mittlerweile anerkannt und in offiziellen Dokumenten, journalistischen Recherchen, historischen Forschungen und dem französischen parlamentarischen Untersuchungsbericht zu Ruanda von 1998 niedergelegt. Derweil belastet das offizielle Schweigen zum Völkermord gegen die Tutsi und insbesondere zur Verantwortung einer Handvoll ehemaliger hochrangiger französischer Amtsträger die Grundpfeiler unserer Demokratie:
- Gerechtigkeit, vor allem da Frankreich einer Reihe von Völkermordverdächtigen Unterschlupf mit Straflosigkeit gewährt. Wir haben großes Vertrauen in die Fähigkeit der Justiz, über diese Leute und über gewisse Franzosen Urteile zu sprechen, aber es ist höchste Zeit, dass Frankreich entschlossen handelt.
- Transparenz, in der Ausübung der politischen Macht und die notwendige Überholung der Beziehung zwischen Führern und Bürgern in unseren Institutionen, deren demokratischer Charakter nicht gewährleistet ist, wenn sie nicht auf der Grundlage der Wahrheit operieren.
- Gleichheit, die zum Bauernopfer wird, wenn Rassismus zuschlägt. Rassistisch gefärbte koloniale Vorstellungen erklären teilweise die geheime Politik gewisser Franzosen und ihre Gleichgültigkeit gegenüber Völkermord in Afrika. Dies ist ein dringendes Thema für die Beziehungen zwischen Frankreich und Afrika sowie für die Beziehungen zwischen Franzosen, von denen manche afrikanischen Migrationshintergrund haben.
- Und letztendlich die Möglichkeit insbesondere für die Jugend sowohl hier als auch dort, in die Zukunft zu blicken.
Es ist jetzt 21 Jahre her, dass die Tutsi von Ruanda mit unvorstellbarer Gewalt überzogen wurden. Tausende von Kilometern entfernt weinen die Überlebenden um die Toten, auf den Hügeln oder in ihren Städten. Sie brauchen das Aussprechen der Wahrheit, um ihre Köpfe zu heben, um den Schmerz etwas zu lindern, um weiterzuleben, um weiter zu überleben.
Herr Präsident, um Frankreich und den Franzosen willen müssen Sie dieses Schweigen brechen und ganz klar die Wahrheit über den Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994 aussprechen.
Zu den Erstunterzeichnern gehören: Benjamin Abtan, President of the European Grassroots Antiracist Movement - EGAM, Bernard Kouchner, Former Minister of Foreign Affairs, Noël Mamère, MP, Mayor of Bègles, Richard Prasquier, Vice-President of the Foundation for the Memory of the Shoah, Anetta Kahane, Chairperson of Amadeu Antonio Stiftung, Guillaume Ancel, Former Soldier involved in the Turquoise Operation, Cécile Duflot, MP, Former Minister of Territorial Equality and Housing, Charles Habonimana, President of the Group of the former students survivors of the genocide - GAERG (Rwanda), Marie Darrieussecq, Writer, Dominique Sopo, President of SOS Racisme, Pascal Bruckner, Essayist and novelist, Benjamin Stora, Historian, Roberto Romero, Vice-President of the Paris Ile-de-France Region, Danielle Auroi, MP, President of the Commission of European Affairs of the National Assembly, Jean de Dieu Mirindi, President of the Association the students survivors of the genocide - AERG (Rwanda), C215, street artist, Sonia Rolland, Actress and Director
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