200 Tote bei Kämpfen in Syrien: Ansturm der Armee
In der nördlichen Provinz Idlib eskalieren die Gefechte zwischen Armee und Deserteuren. 3.000 Kämpfer der Freien Armee Syriens sollen sich dorthin zurückgezogen haben.
BERLIN taz | Die Gewalt in Syrien gerät zusehends außer Kontrolle. Vor allem in der nördlichen Provinz Idlib, wo seit Montag schwere Gefechte zwischen desertierten und regimetreuen Soldaten toben, trage der Konflikt mittlerweile deutliche Züge eines Bürgerkriegs. Allein am Dienstag sollen mindestens 200 Menschen in dieser Gegend ums Leben gekommen sein.
Allerdings widersprechen sich die Angaben unterschiedlicher Quellen: Das Aktivistennetzwerk Avaaz hat den Tod von 163 bewaffneten Rebellen und von 9 Zivilisten registriert. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London dagegen meldet 111 Todesopfer in der Zivilbevölkerung, zusätzlich zu mehreren Dutzend erschossenen Überläufern. Außerdem sollen bei den Kämpfen fast hundert Regierungssoldaten getötet worden sein.
"Genaue Zahlen gibt es bisher noch nicht", sagt der syrische Menschenrechtler Wissam Tarif, der mit Avaaz zusammenarbeitet. "Wir waren nicht in der Lage, die gesamte Region abzudecken. Wir haben es nicht geschafft, in allen Dörfern jemanden zu erreichen."
Die Intensität der Kämpfe in dieser Woche illustriert die zunehmende Stärke der Deserteure. Bis zu 3.000 Kämpfer der Freien Armee Syriens sollen sich in den vergangenen Wochen nach Idlib zurückgezogen haben. Etwa 75 Dörfer liegen in der Region direkt an der türkischen Grenze verstreut; 34 davon haben nach Angaben von Aktivisten zuletzt unter Kontrolle der Freien Armee Syriens gestanden.
Auch libysche Kämpfer sollen sich in Idlib aufhalten. "Ich habe mit dreien telefoniert", sagt Tarif. "Sie haben sich aus der Türkei über die Grenze schleusen lassen. Sie sagen, sie seien dort, um zu helfen."
"Es ist wie im Krieg"
Anfang der Woche begann die syrische Armee eine groß angelegte Offensive, um das verlorene Gebiet zurückzuerobern. Am Montag soll das Militär regelrecht Jagd auf die Deserteure gemacht haben. Etwa 70 Überläufer sollen dabei erschossen worden sein.
Gleichzeitig, heißt es, haben die Rebellen mehrfach militärische Stützpunkte und Waffenlager überfallen. Damit setzte wurde eine Spirale aus Angriffen und Vergeltungsangriffen in Gang gesetzt, die am Mittwoch andauerten.
Die Operation ist auf Dschabal al-Sawija konzentriert,eine Gegend rund 40 Kilometer westlich der Stadt Idlib. "Es ist wie im Krieg. Die Armee schießt mit Panzern auf die Dörfer, Flugzeuge kreisen am Himmel. Ich höre alle zehn Minuten laute Explosionen", sagt Nour Abdu, ein Aktivist aus Dschabal al-Sawija. Er ist, wie viele andere Anwohner, in die nahe gelegenen Berge geflohen.
"Verletzte liegen auf den Straßen. Die Soldaten haben die Toten in eine Moschee gebracht. Wir können sie nicht beerdigen, wir wissen nicht einmal, wie viele genau es sind!"
Überläufer sind unterlegen
Die Deserteure hätten versucht, sich den Streitkräften entgegenzustellen, sagt Nour Abdu. Doch die zahlenmäßig und militärisch weit unterlegenen Überläufer könnten dem Ansturm der Armee nicht lange standhalten. Mittlerweile hätten die Regimetruppen das Gebiet wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Die Deserteure seien entweder geflohen oder getötet worden.
Idlib ist wegen der Nähe zur Türkei von erheblicher strategischer Bedeutung: Die Opposition könnte die Provinz zu einer Art Korridor ausbauen, den die Kämpfer für ihre Operationen und Zivilisten zur Flucht über die Grenze nutzen. Die Führung in Damaskus hatte sich am Montag bereit erklärt, eine Beobachtermission der Arabischen Liga ins Land zu lassen.
Es ist davon auszugehen, dass das Regime die Lage im Norden in den Griff kriegen will, bevor am Donnerstag ein Vorauskommando eintrifft. Inzwischen hat der Syrische Nationalrat die Einrichtung einer international geschützten "sicheren Zone" in den Provinzen Idlib und Homs gefordert.
Damit hat sich der Nationalrat, eine Art Keimzelle einer Übergangsregierung, erstmals offen hinter die Freie Armee Syriens gestellt. Bislang hatte die Gruppe den bewaffneten Aufstand stets abgelehnt. Doch allmählich glaubt niemand mehr, dass das Assad-Regime mit friedlichen Mitteln besiegt werden kann.
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