20 Jahre Reichstagsverhüllung: Danach war alles möglich
Der verhangene Reichstag war eine wunderbare Kulisse aus Kunst und Geschichtsskulptur. Die Aktion reformierte zugleich die Rolle von Kultur im öffentlichen Raum.
Vor einer Woche, zu Christos achtzigsten Geburtstag, sollen in New York ein paar Witze die Runde gemacht haben: Einer ging so: Wie und womit verpackt man am besten ein Geschenk für den Künstler? Ein anderer so: Ist es nicht ratsam, das Präsent unverpackt zu lassen, um nicht den Ärger Christos auf sich zu ziehen? Denn jeder weiß, dass dieser nichts mehr ablehnt, als in die Schubladen des reinen Verhüllungs- oder Verpackungskünstler gesteckt zu werden.
Seis drum. Als vor 20 Jahren, vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995, Christo gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Jeanne-Claude, das Berliner Reichstagsgebäude komplett mit dem silbrig glänzenden Aluminium-Polypropylengewebe verhüllte, bildete dies einen Höhepunkt unter den Einpack-Arbeiten des Künstlerehepaars.
Rolling Stones der Kunst
„Wrapped Reichstag“, so der Titel, machte aus Christo und Jeanne-Claude die Rolling Stones der bildenden Kunst. Der Reichstag war Rock n Roll, ein temporäres Schauspiel mit Millionen von Beteiligten. Alle liebten 1995 den „Wrapped Reichstag“.
Bis dato ist man sich in der Berliner Kulturpolitik einig, dass die Verhüllungsaktion für die Stadt einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung und Rezeption von Kunst, Kunstvermittlung und Kultur im öffentlichen Raum bedeutete. Mehr noch, „die Reichstagsverpackung 1995 war ein zentrales Beispiel für die Entwicklung von Kunst und Kultur zum Public Event“, wie Martin Schönfeld, Kunsthistoriker und Mitarbeiter im „Büro für Kunst im öffentlichen Raum“ des Berufsverbandes bildender Künstler Berlin (bbk), kritisch anmerkt.
Die „Luis Trenkers der Landart“, wie Christo und Jeanne-Claude manchmal wegen ihrer monströs-ästhetisierten Objekte inmitten der freien Natur im Feuilleton belächelt wurden, hatten anfangs unter anderem einen Talvorhang über eine Schlucht in den Rocky Mountains gehängt. Es folgten verpackte Parkwege, kilometerlange Stoffzäune, künstliche Inseln, mit Schirmen dekorierte Landschaften in Japan.
Postkarte aus Berlin
Von 1884 bis 1894 lässt der Frankfurter Architekt Paul Wallot das von Wilhelm II. verspottete "Reichsaffenhaus" - den Reichstag im Tiergarten - errichten. Unter Architekten gilt der Bau im Stil der Neorenaissance mit Säulenportal und Kuppel als zweitklassig.
Bis 1933 beherbergt das Plenargebäude erst den Reichstag des Kaiserreichs, dann den der Weimarer Republik. Im Februar 1933 brennt der Reichstag aus. Die Nazis sollen das Feuer gelegt haben.
1945 besetzt die Rote Armee den Reichstag, das berühmte Foto von Jewgeni Chaldei mit der Fahne über dem Bau entsteht.
Nach Umbauten in den 1960er Jahren für die Bundesversammlung wird nach dem Mauerfall entschieden, den Sitz des Deutschen Bundestages nach Berlin zu verlegen.
Den Umbau zum modernen Parlamentsgebäude realisiert der britische Architekt Sir Norman Foster von 1995 bis 1999. Am 8. September 1999 tagt erstmals der Bundestag im neuen Reichstag. (rola)
„Wrapped Reichtag“ bildete jedoch das mit fünf Millionen Besuchern spektakulärste, teuerste (13 Millionen Dollar), aber auch politisch umstrittenste und zeitintensivste Projekt der beiden. Vergingen doch von der Postkarte 1971 des in Berlin ansässigen US-Amerikaners Michael S. Cullen an Christo mit dem Vorschlag, „erstmals ein öffentliches Bauwerk“ einzupacken, bis zur Reichstagsverhüllung unter 100.000 Quadratmeter silbrigem Gewebe ganze 24 Jahre.
Christos und Jeanne-Claudes Reichstagsverhüllung hatte 1995 eine geradezu aphrodisierende Wirkung auf das „Posemuckel-Berlin“, wie Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter damals sagte. Die Mauer war weg, aber auch die Wiedervereinigung hinterließ Unsicherheiten. 1993 war zudem die Olympiabewerbung Berlins kläglich gescheitert.
Als die Idee real wurde, dass man dem grauen Reichstagsgebäude von 1894 vor seinem Umbau zum Sitz des Bundestages durch den Architekten Sir Norman Foster einen Imagewechsel per Verhüllung verpassen wollte, zogen die Berliner mit. Die Stadt konnte sich mit dem Wunsch, in der Verpuppung sich zu verwandeln, um das alte Kaiserreich-oder NS-Ego abzulegen, identifizieren. „Wrapped Reichtag“ war ein katharsischer Prozess für den Bau und Berlin.
Wer sich an diese Zeit im Sommer 1995 erinnert, der erinnert sich an ein großes Volksfest auf der Reichstagswiese. Man hockte im Gras, picknickte, machte Musik. Kinder spielten vor der Christo-Kulisse. Abends kamen die Pärchen. Man prüfte den schweren Stoff mit den Fingern, der große Geist da vorn mit den weit ausgebreiteten Armen unter seinem schimmerndem Gewand war ein guter.
Diese „große Inszenierung“ als Symbol für die bessere Seite der deutschen Hauptstadt hallt zum einen nach bis in unsere Tage. „Noch heute schwärmen die Leute über die Reichstagsverhüllung und viele bedauern, dass sie sie nicht live gesehen haben“, sagt Cullen über die Erinnerungs- und Wirkungsmacht.
Zum anderen führte die Verhüllung gemeinsam mit der lässig-lockeren Stimmung zu neuen Formen von Produktionen im öffentlichen Raum: Das Kunstprojekt wird zum Public Event, welches aufgeladen ist mit den Spuren und Zeugnissen der Berliner Geschichte. Der Reichstag, meint Cullen, habe zu dieser „Identitätsstiftung“ zwischen Geschichte und heute ideal beigetragen.
Die Zeichen, die von der Reichstagsverhüllung vor 20 Jahren und der Bespielung des öffentlichen Raums ausgingen, gehören bis dato zu den Konzepten von Berlins Image- und Tourismusstrategen im Roten Rathaus: Kultur im öffentlichen Raum ist Teil des Stadtmarketings. Mit den Faktoren Künstlerpersönlichkeiten, Großspektakel, Stadtgeschichte, dem Geschichtsboom samt „einer realen Sehnsucht nach Vergangenheit“, so der Historiker Martin Sabrow, Direktor am Institut für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), „forcierten der Senat und die Kulturpolitik die Transformation“ von Geschichte in die Gegenwart, wie Schönfeld analysiert.
Geschichte als Imagefaktor
Denn anstelle der eigentlichen Kunst im öffentlichen Raum - wie das beim „Skulpturenboulevard“ anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins oder mit Wolf Vostells „Cadillac-Betonplastik“ (1987) praktiziert wurde - sei in der Folge von Christo die Geschichte der Stadt so in den Vordergrund gehebelt und als Imagefaktor eingesetzt worden, dass diese Formen seither den kulturellen Hotspot Berlin definieren. Schönfeld: „Von Christo hat die Gedenk- und Eventkultur aber nicht die Kunst im öffentlichen Raum profitiert.“ Es gelte, diese Unwucht von Kunstereignis einerseits und Public Event auf der anderen Seite - was insbesondere nach der Jahrtausendwende durch die Präsenz von Superevents wie die Technopartys oder die Fanmeilen mit rund 1,5 Millionen Besuchern jährlich - verursacht wurde, wieder ins Lot zu bringen und mit mehr Geld auszustatten.
Sind die Kunst im öffentlichen Raum, sind Künstler und ihre Projekte wie etwa die Weltausstellungs-Installation auf dem Tempelhofer Feld nur die Opfer der Reichstagsverhüllung? Wohl kaum. Moritz van Dülmen, Chef der landeseigenen Kulturprojekte Berlin GmbH, leitet aus der Christo-Aktion andere Perspektiven ab: „Das Happening rund um den Reichstag“ sei „eine Zäsur, ein Aufbruch mit internationaler Strahlkraft“ für Berlin gewesen. Dies gelte auch für die Szene. Kunst und Kultur hätten sich seither „im öffentlichen Straßenraum von der Streetart bis zur lebendigen Form der Geschichtsvermittlung herausgebildet“. Es sei ein gutes Erbe von Christo, wenn „der Stadtraum zu einem realen Bühnenbild wird auf dem Geschichte mit großer Qualität erzählt wird und man viele Menschen damit erreicht“.
Seit Christo geht alles
Dass sich im Windschatten des „Wrapped Reichstag“ eine durchkommerzialisierte Eventkultur von der Loveparade bis zur Fanmeile herausbildete, die sich mit den Federn der Kunst nur schmückt, weiß auch der Kulturmanager van Dülmen.
Seit Christo geht alles in Berlin. Kunst und Leben schwimmen seither in diversen öffentlichen Formen, Ausstellungen und Events ineinander über, dass man fast den Überblick verliert. Seit Christo boomen die Geschichtsmeilen, die MoMAs, die Baustellen-Performances, temporären Installationen, Jubiläumsfeten, Festivals, die Public Viewings, Lichtergrenzen oder die „Langen Nächte“. Seit Christo ist Berlins Kultur auch geil.
Dieser Text ist Teil des aktuellen Schwerpunkts in der Wochenendausgabe der taz.berlin. Darin außerdem: Ein Interview mit Leonie Baumann, Rektorin der Kunsthochschule Weißensee, zu Christos Aktion.
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