20 Jahre Hausbesetzungen in Ostberlin: Der lange Sommer der Anarchie

Im Jahr 1990 entdeckten Westberliner den Leerstand in Friedrichshain. Viele von ihnen verstanden Hausbesetzung als Kampfansage an die Herrschenden.

Angefangen hat es mit einer Liste. Im April 1990 veröffentlichte die Ostberliner "Kirche von unten" im Westberliner Szeneblatt Interim die Adressen leerstehender Häuser im Bezirk Friedrichshain. Darunter waren auch die Jessnerstraße, die Mainzer und die Rigaer Straße. Mitte und Prenzlauer Berg tauchten nicht auf der Liste auf, weil die meisten Häuser dort schon besetzt waren. So wurde Friedrichshain, von Kreuzberg nur durch die Spree getrennt, zum Besetzerdorado der Westberliner Szene.

Ein bisschen auch zum Abenteuerspielplatz. Wer damals von Kreuzberg nach Friedrichshain wollte, wurde noch immer kontrolliert. Der Zwangsumtausch war zwar abgeschafft, nicht aber die Passkontrolle an den Grenzübergängen Jannowitzbrücke oder Oberbaumbrücke.

Baumaterial musste also im Osten beschafft werden. Oft wanderte ein Haufen Braunkohle (Volkseigentum) von irgendeinem Schulhof in den Keller eines besetzten Hauses (vergesellschaftetes Eigentum). Der lange Sommer der Anarchie, der bis zur Räumung der Mainzer Straße am 14. November 1990 dauerte, war auch Ergebnis eines politischen und rechtlichen Interregnums zwischen der Nicht-mehr-DDR und der noch nicht wiedervereinigten Bundesrepublik.

Allerdings war Anarchie nicht gleich Anarchie. Auch in Friedrichshain gab es Häuser, deren neue Bewohner den Dialog mit den Nachbarn suchten. Leicht war das nicht, weil im Besetzerrat die Mainzer Straße dominierte - und die verstand sich als Kampfansage an die Herrschenden, wie der Stadtsoziologe Andrej Holm vor kurzem anmerkte: "Gerade die Mainzer Straße stand für die Tendenz, besetzte Häuser nicht mehr nur als Freiraum zur Selbstverwirklichung anzusehen, sondern auch als Orte der Konfrontation mit staatlichen Behörden und als Symbole einer politischen Selbstverortung." Einen ganz anderen Weg schlug die Jessnerstraße 41 ein. Sie wurde zu einer Keimzelle der Friedrichshainer Partyszene.

Mit den besetzten Häusern in Friedrichshain bekam die linke Szene auch ihren ersten Ost-West-Konflikt. Anders als in Friedrichshain waren die von Ossis oder gemischten Gruppen besetzten Häuser in Mitte und Prenzlauer Berg mehrheitlich an Verhandlungen interessiert. Erst recht, als sich die Lage nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober zuspitzte und dem Sommer der Anarchie ein Herbst der Gesamtberliner Polizei folgte.

Die Räumung der Mainzer Straße aber führte auch in Friedrichshain zu einem Umdenken. Nun wollte man das, was man hatte, lieber retten. So endete das Jahr 1990 mit einer Verhandlungsoffensive aller Ostberliner Häuser. Was nur teilweise Erfolg hatte: Während in Prenzlauer Berg und Mitte fast alle 80 Häuser Verträge bekamen, blieb in Friedrichshain fast die Hälfte der 44 Häuser illegal. UWE RADA

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