1968 in der französischen Provinz: Das Land stand still und Kopf zugleich
Studierende, Bauern, Arbeiter: In Nantes schlossen sie sich im Mai 1968 zusammen. Das habe es so nie wieder gegeben, sagt der Bauer Joseph Potiron.
Die Place Royale, der „königliche Platz“, ist leergefegt, beherzt weht der Wind vom 40 Kilometer entfernten Atlantik, der dem einzigen an diesem Sonntag geöffneten Restaurant seine frischen Meeresfrüchte liefert. Familien, aber auch junge Leute treffen sich zum Abendessen. Dass es am Vortag Demonstrationen und zerbrochene Fensterscheiben gab, merkt man hier nicht. Der Uni-Campus ist besetzt, Besetzungen haben Tradition in Nantes, das 1968 das erste Go-in eines Unirektorats und die erste Fabrikbesetzung des Jahres erlebte.
Es gibt ein aussagekräftiges Foto von der Place Royale, diesem zentralen Platz in der Altstadt, umgetauft in „Place du Peuple“ – Platz des Volkes. Die Bauern auf ihren Traktoren erklären sich mit den streikenden Arbeitern solidarisch, sie begrüßen „die völlige Umwälzung der Gesellschaft“. Es ist der 24. Mai 1968. Es gibt andere Fotos in diesem Monat, auf denen die Studenten die Meeresgöttin des Brunnens erklimmen, schwarze und rote Fahnen schwenken. Es gibt Fotos von Massenaufmärschen, tränengasverseuchten Straßenzügen, von Polizisten mit Schlagstöcken, Steine werfenden Demonstranten, Funktionärsrednern. Doch der 24. Mai markiert den Tag, an dem alles zusammenkommt, alle aufeinandertreffen: Bauern, Arbeiter, Studierende. Das ist einzigartig in Nantes.
Aber ist dieser Moment der Einheit tatsächlich von allen Beteiligten so einmütig wahrgenommen worden? Hat es ihn tatsächlich gegeben? Spricht man 50 Jahre später mit damaligen Aktivisten und Aktivistinnen, so zeichnen sich kontroverse politische Lager ab, tun sich Risse auf: Und doch gab es Momente, in denen diese Menschen nicht eins, aber sich einig waren.
„Es hat in beide Richtungen funktioniert“, sagt Hélène Lambert, ehemalige Spanischstudentin in Nantes. „Ich war angenehm überrascht, als die Bauern in eine Uni-Vollversammlung kamen. Das war für mich eine Revolution.“ Die blond gelockte, schmale Frau ist ins Centre d’Histoire du Travail (CHT) gekommen, dem „Zentrum für die Geschichte der Arbeit“, in einem früheren Werftgebäude.
„Ich war 1968 noch nicht politisiert“, erzählt die heute 68-jährige Lambert, „ich habe in den Vollversammlungen nicht alles verstanden.“ Zu den Treffen und Demos ging sie trotzdem, „in völliger Naivität“, sie geriet in einen „Ideensprudel, ich hatte das Gefühl, das Leben zu entdecken“. Lambert war 18 damals, kam vom Land aus einer „sehr katholischen Familie“ und wohnte im Studentenwohnheim gleich neben dem Campus. Die Uni war erst einige Jahre alt, lag isoliert am Stadtrand, heute fährt eine Tram dort hinaus.
„Wir hatten Forderungen, keine Illusionen“
Gleich Lamberts erste Demo am 14. Februar 1968 verlief gewaltsam. Eine studentische Delegation stattete dem Unirektor einen Besuch ab. Der mutierte zu einer Art Happening – man griff zu den Zigarren des Rektors, plünderte den Kühlschrank und pinkelte auf den Teppich. Draußen warteten friedlich 1.500 Studierende, darunter Hélène Lambert. Als sie abziehen wollten, griff die Polizei von hinten an, prügelte auf sie alle ein. „Ich bin davongekommen“, erzählt Lambert, „doch es war ein Schreck.“
Georges Vincent, Exbesetzer
Wie überall in Frankreich, ging es in Nantes anfangs um die soziale Situation der Studierenden, um ein Aufbegehren gegen verkrustete autoritäre Strukturen. Plätze im Wohnheim waren knapp, Stipendien rar, Frauen und Männer mussten getrennt wohnen und schlafen. Wie in Paris stürmten Studenten nachts auf Einladung der Bewohnerinnen die Frauenheime. Die Studentinnen besuchten ihre Kommilitonen, es war von Februar bis Mai ein Hin und Her. „Nicht immer angenehm, da wurden Türen eingeschlagen, die Aktionen waren manchmal fast aggressiv“, sagt Lambert. Die zarte Frau erinnert sich selbst als „kleines Mädchen“, das von den Aktivisten, den Studentenführern „weit entfernt“ war. Damals entdeckte sie die Arbeiter- und die Frauenbewegung.
Es ging in diesem Frühjahr 68 schon bald nicht mehr nur um die Forderungen der Studentenverbände oder der Gewerkschaften. Täglich gab es Nachrichten aus Paris und anderen großen Städten, das Land stand still und Kopf zugleich. Auf dem Fabrikgelände von Sud-Aviation in Bouguenais, einem Vorort von Nantes, war der Betrieb vier Wochen lang stillgelegt. Vier Wochen, in denen Georges und André Vincent nicht aus ihren Klamotten und nicht nach Hause gekommen sind.
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Zeitleiste Mai 68 in Frankreich
Die Brüder sitzen aufrecht nebeneinander auf dem Sofa in Georges’ Wohnung, der Ältere, Georges, trägt Schnauzer und Brille. Meist führt er das Wort. Schon ihr Vater war bei Sud-Aviation. Die Flugzeugfabrik, wo früher die Caravelle gebaut wurde, gehört heute zur Airbus. Georges Vincent war Schlosser, sein Bruder Schleifer. Mehr als 40 Jahre gehörten sie der Firma an, stets in der kommunistischen Gewerkschaft CGT aktiv. Die war wegen Moskautreue und staatstragender Haltung vielen Studenten suspekt.
„Wir haben die bei Demos getroffen, sonst nicht“, erinnert sich Georges Vincent. „Wir marschierten in Blöcken, dann ging es zurück in die Fabrik. Wir wollten nicht die Regierung stürzen. Wir hatten Forderungen, keine Illusionen.“ Noch heute ist bei ihm die Abgrenzung von der Studentenrevolte zu spüren. „Aber die Studierenden sind doch zu Sud-Aviation gekommen, um mit Wache zu schieben?“ „Richtig.“ Die Solidarität – und am Ende der Erfolg, die hätten ihnen schon gutgetan.
Bauern und Fischer brachten Lebensmittel
Im bestreikten Betrieb herrschte ein striktes Reglement. Wer nicht dazugehörte, musste bei den Streikposten draußen bleiben, erinnern sich die Brüder. Schließlich galt es ja, neben den Maschinen auch noch den Direktor, Pierre Duvochel, zu bewachen, dessen Festsetzung eigentlich nicht geplant war.
„Er blieb in seinem Zimmer, er hätte gehen können. Man hat ihm wohl von oben befohlen zu bleiben.“ Duvochel blieb also, André Vincent schlief nachts vor seiner Tür. Zwei Wochen lang passierte nichts, keine Polizei, kein Verhandlungsangebot. Noch heute wundern sich die Brüder. Am Wochenende kamen die Familien zu Besuch, dann ein Anruf, die Direktion schickte ein Flugzeug – Duvochel durfte nach Hause und Georges Vincent als Teil der Gewerkschaftsdelegation nach Paris: „Wir haben alles bekommen, was wir wollten.“ Entfristete Verträge, keine Lohnminderung trotz reduzierter Arbeitszeit: 45 statt 48 Stunden.
Dieser Streik war nicht der erste und nicht der letzte Arbeitskampf für die Brüder Vincent. „Mir bedeutet das nichts, dass ich ein 68er bin“, sagt Georges Vincent mit vorsichtigem Lächeln. Jeden Monat treffen sie sich mit Exkollegen. Der Kampfgeist, die Moral und die Solidarität untereinander waren hoch. Bauern und Fischer brachten ihnen damals Lebensmittel in die Fabrik. „Da gab es eine besondere Bindung“, erklärt Georges Vincent. „Viele Fabrikarbeiter kamen ja vom Land.“
Yvon Chotard, Exstudentenführer
Christophe Patillon vom CHT kann das gut erklären, der Historiker hat sich lange mit der Situation der Bauern der Region befasst. Der Westen Frankreichs war bis auf wenige industrielle Enklaven eine ländliche Region. Das alte System der Kleinbauern war am Ende: Wer etwas verändern wollte, musste modernisieren. Wer modernisieren wollte, musste investieren und sich verschulden. Ein Teufelskreis, erklärt Patillon, dem viele Bauernsöhne sich entzogen, indem sie in den Fabriken ein Auskommen suchten. Auch hier lag die Revolte in der Luft.
Patillon sitzt im Büro des CHT, die Frühlingssonne heizt die Scheiben auf. Es gab sozialen Frust damals, zugleich der Frust einer ganzen Generation. „Die jungen Leute waren offener. Sie teilten oft den gleichen Musikgeschmack, in jedem Fall den Wunsch, frei zu sein.“ Dennoch war es kein reines Happening, Vorurteile und Misstrauen gegeneinander waren häufig. „Die Bauern galten den anderen als konservativ und profitorientiert. Außerdem waren sie ja kleine ‚Patrons‘“, sagt Patillon. „Die Arbeiter galten ihnen umgekehrt als Kommunisten. Die wiederum misstrauten den Studenten, die sie als elitär, dominant und besserwisserisch empfanden.“
Wenige haben viel, die vielen haben wenig
„Ich habe den Studenten nicht misstraut“, erklärt Joseph Potiron mit Nachdruck. Er ist bis heute gut auf sie zu sprechen. 68 hat sein Leben verändert. „Mes 68“, „meine 68“ sagt er, sagen die Franzosen liebevoll, wegen der im Französischen weiblich konnotierten Jahre. Der Landwirt fuhr am 24. Mai nach Nantes, zur großen Demonstration auf der Place du Peuple. Das CHT besitzt ein Foto, das ihn auf einem Traktor zeigt. Eine halbe Stunde Fahrt brauchte der heute 85-Jährige damit in die Stadt, „dort redeten plötzlich alle miteinander, das ist nie wieder passiert.“ Und dann sagt Potiron einen dieser Sätze, die bei ihm nicht floskelhaft wirken: „Die Revolution macht man nicht mit dem Gewehr. C’est la fête, man hat Spaß.“
Der Landwirt ist ein rebellischer Geist, hellwach, kein Mittagsschlaf trotz seines Alters und eines ausführlichen Essens, dem Gast zu Ehren. Er lebt in dem Häuschen, in das er nach dem Krieg mit seinen Eltern und seinen sechs Geschwistern zog. Alle schliefen in einem Raum. Seine Eltern waren Pächter, die Verhältnisse postfeudal. Aus der Erde in die Hand in den Mund. „Für uns Bauern hat sich bis heute nichts geändert“, sagt Potiron. Die Eigentumsverhältnisse: Wenige haben viel, die vielen haben wenig. Nur dass die vielen auch immer weniger werden – in seiner Gemeinde gab es damals etwa 150 Bauern, heute sind es nur noch fünf.
Dann hat also 68 den Bauern nichts gebracht? Das weist Potiron von sich. „Ich wollte Solidarität. Und ich habe sie bekommen.“ Es scheint, als läge der Mai 68 für Potiron nicht fünfzig, sondern nur fünf Jahre zurück. Es muss eine Initiation gewesen sein: Noch zehn Jahre hätte er gebraucht, erzählt Potiron, um sich von seiner Frau zu trennen. Für die fünf Kinder sorgte er dann allein.
Plakate des 68er-Protests
Die Region um Nantes, die historische Bretagne, hat eine lange Tradition sozialer Kämpfe. „Nantes la rouge“, das rote Nantes, gab es schon vor 68. Viele der Studierenden kamen vom Land oder aus Arbeiterfamilien. So auch Yvon Chotard, heute Anwalt, gemeinsam mit dem Historiker Jean Breteau einer der Studentenführer, die für Hélène Lambert so weit weg schienen. „Wir waren revolutionär, antikapitalistisch und antikommunistisch eingestellt“, sagt Breteau. Sie misstrauten den klassischen Parteien oder Gewerkschaften, insbesondere der kommunistischen PCF und CGT, mit deren Funktionärsgehabe und ideologischen Engstirnigkeit.
Der Geschichtsstudent Breteau und der Jurastudent Chotard begeisterten sich stattdessen für die radikale Künstlerbewegung des Situationismus, die schon an den Unis Straßburg und Nanterre Wirkung und Gefolgschaft erzielt hatte. 1967 hatten die beiden die Studierendengewerkschaft Unef quasi gekapert, betrieben so ihre Anliegen, ohne jedes theoretische Konzept. „Wir redeten von der Revolution, und plötzlich trat sie ein“, sagt Chotard, „klar, dass wir ein bisschen zu selbstbewusst wurden.“
Bei ihm liefen auf studentischer Seite die Fäden zusammen. Sein Deutschlehrer am Gymnasium war Gabriel Cohn-Bendit gewesen, Daniels Bruder. Durch ihn lernte er „sie alle kennen“, er freundete sich mit Guy Debord an, dem Kopf der Situationisten. 1972 brach er mit Debord.
Unbekannte Zukunft
Sein langjähriger Mitstreiter Jean Breteau hat eine Hochschulkarriere ausgeschlagen. „Ich mag das akademische Milieu nicht“, sagt der bescheidene Mann, der mit Schiebermütze und Bart wie der klassische Alt-68er aussieht, nur dass er statt auf einer Pfeife auf einem Streichholz kaut. Mythenbildung liegt ihm nicht. Die große Verbrüderung zwischen Studierenden und Arbeitern hat aus Breteaus Sicht nicht stattgefunden. „Jeder hat seins gemacht.“ Und auch wenn sie im Mai 68 fast täglich zu den bestreikten Busdepots oder zu Sud-Aviation hinausgefahren sind, habe man sich nicht angefreundet. „Umgekehrt sind die Gewerkschafter in unsere Vollversammlungen gekommen“, sagt er anerkennend.
1968 war ein bewegendes Jahr. Eines mit lang anhaltenden Folgen für alles, was sich in den kommenden Jahrzehnten als linksalternativ verstand – und letztlich für die gesamte Gesellschaft. Aber wie und wann hat das alles begonnen?
Kalenderblatt
Um unseren LeserInnen ein Gefühl dafür zu geben, startet die taz das „Kalenderblatt zum Sommer 1968“. In den kommenden Monaten werden wir in der gedruckten taz sowie auf Twitter und Facebook immer wieder auf ein vor 50 Jahren aktuelles Ereignis hinwiesen.
Karte mit Schauplätzen
Auf taz.de/1968 gehen wir auf Zeit- und Weltreise – mit einer Karte der Schauplätze des Protests und einem Wissens-Quiz, das gut geschulten Linken leichtfallen sollte.
Chotard und Breteau, der eine ein arrivierter Anwalt, der andere ein engagierter Lokalhistoriker, sind Freunde geblieben. Von einem neuen 68 sei man heute weit entfernt, glaubt Breteau, trotz der Unistreiks, trotz der Kämpfe um Notre-Dames-des-Landes. Fast zwei Jahrzehnte zog sich der Kampf der Bevölkerung gegen den Flughafenbau 25 Kilometer nordwestlich von Nantes. Im Januar sagte Präsident Macron das Projekt endgültig ab. Nicht gerechnet hat er mit dem Widerstand der Landkommunen und -besetzer, die ihre Höfe in Eigenregie und kollektiv weiter betreiben wollen. Vor einigen Wochen war die Polizei brutal in das Gelände eingedrungen, hat einen Teil zerstört. Nun wird zwischen Besetzern und Behörden verhandelt; wieder ist eine Räumung angedroht.
In Nantes genießen die „Zadisten“ (von ZAD, Zone à défendre: zu verteidigende Zone) viel Sympathie. Joseph Potiron ist vergangenes Wochenende dort gewesen. Hélène Lambert, die nach 68 ihr Studium schmiss und Krankenschwester wurde, gehört seit Jahren einem Unterstützerkomitee an. „Unsere Enkel sind dort, und wir Alten. Die mittlere Generation fehlt.“
Vielleicht sind die Kinder der 68er genervt von ihren Eltern, deren Geschichten. Oder haben schlicht keine Zeit. Die junge Generation knüpft an 68 an, blockiert den Unibetrieb in Nantes. Das weckt Hoffnungen. „Ich war damals sehr enttäuscht“, erinnert sich Lambert, als die Revolte mit den Wahlen Ende Juni 68 plötzlich zu Ende war. „Ich hatte geglaubt, dass alles anders wird. Wahrscheinlich haben wir den Leuten Angst gemacht.“
In den Straßen von Nantes stehen alte knorrige Platanen. Sie sind stark gestutzt, noch zeigt sich kein Blatt. Ihre Stämme haben die gleiche Farbe wie die Bürgerhäuser der Stadt. Verwaschenes Weiß, manchmal ein bisschen abgeblättert. Sie haben Geschichte. Und eine unbekannte Zukunft.
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