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15 Jahre MerkelTrauern von links

Angela Merkel jetzt schon vermissen ist das Guilty Pleasure vieler Linker. Das zeigt vor allem, was nach ihrem Ende als Kanzlerin zu befürchten ist.

Merkel-Fan 2005 mit ihr als Che Guevara auf dem T-Shirt während des Wahlkampfs 2005 Foto: Kolvenbach/imago

E inige Linke flüstern sich manchmal einen Gedanken zu, so als ob sie sich dafür schämen würden, ihn laut auszusprechen: „Pssst, weißt du was? Ich werde Angela Merkel irgendwie vermissen.“ Oft wird dann genickt, und einige versinken in unendlicher Melancholie. Viele Freund*innen von mir – die eher all ihre Weisheitszähne freiwillig und ohne Betäubung ziehen lassen würden, als die CDU/CSU zu wählen – haben diesen Gedanken formuliert. Die „Merkel muss weg!“-Rufe auf rechtsextremen Demos brachten ihr nur noch mehr linke Sympathien ein.

Angela Merkel ist seit 15 Jahren Bundeskanzlerin. Am 22. November 2005 wurde sie im Bundestag als erste Frau an der Spitze einer Bundesregierung vereidigt. Für Deutschland schon ein historischer Moment. Die Ära Merkel soll im kommenden Jahr zu Ende gehen. Sie tritt nicht mehr an und hat angekündigt, sich ganz aus der Politik zurückzuziehen.

Kann man Merkel von links nachtrauern?

Emotionen sind an sich schwer zu kontrollieren. Oft ist gar nicht so klar, woher sie kommen und warum sie einen so belasten oder beflügeln. Deswegen sollte man unbedingt zur Therapie, wenn man zu viele emotionale Mysterien in sich trägt. Bei den Gefühlen gegenüber Angela Merkel spielt aber zweifellos ihr Image eine Rolle: rational und ruhig, abwägend und irgendwie allwissend, fleißig und – das muss man ihr lassen – auch lernfähig, etwa bei der Atompolitik.

Merkel'sche Meilensteine

Dies macht die linke Trauer allerdings nur noch schlimmer mit Blick auf andere Mer­kel’sche Meilensteine: Die Situation an den europäischen Außengrenzen, dafür ist auch Merkel verantwortlich. Es gibt Berichte darüber, dass die kroatische, die griechische oder die ungarische Regierung dort Menschenrechte verletzen – während Merkels CDU beispielsweise die Fidesz von Viktor Orbán in ihrer konservativen Parteienfamilie hofiert. Auch der Pakt mit Erdoğan ist ihr Pakt.

Angela Merkel hat gegen die Ehe für alle gestimmt. Nicht dass alle Queers Ver­fech­te­r*in­nen des staatlich-gesellschaftlichen Legitimationszwangs zwischenmenschlicher Beziehungen wären, für genug LGBTQs war es dennoch eine wichtige Errungenschaft der Gleichberechtigung.

Auch vielsagend: Merkel fördert weiterhin fleißig deutsche Rüstungsexporte an diktatorische Regime im Nahen Osten und in Nordafrika. Verstehe also, dass sich einige Linke für ihre Merkel-Sympathien schämen. Was aber richtig traurig ist: Wenn Queers, intersektionale Feminist*innen oder rassifizierte Menschen in diesem Land einer Politikerin nachtrauern, die nie wirklich aktiv Politik für sie gemacht hat.

Das sagt nämlich mehr über das aus, was auf marginalisierte Gruppen in der Post-Merkel-Zeit zukommen könnte. Alle Kandidaten für die Kanzlerkandidatur der CDU/CSU sind einfach panne, einer von ihnen besonders (guess who!). Eine progressive Partei gibt es nicht in diesem Land, zumindest nicht eine mit realistischem Machtanspruch. 15 Jahre Merkel: Es ist zum Heulen.

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Mohamed Amjahid
Mohamed Amjahid ist freier Journalist und Buchautor. Seine Bücher "Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken" und "Let's Talk About Sex, Habibi" sind bei Piper erschienen. Im September 2024 erscheint sein neues, investigatives Sachbuch: "Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt" ebenfalls bei Piper.
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