Über Akkus in der Merkel-Ära: Ladezyklen und Orientierung
Sie können gehörig nerven, aber sie gehören auch zu den Dingen, die dem Alltag Halt geben. Ein essayistischer Erfahrungsbericht. Über Akkus.
In der großartigen Kurzserie „The Queen’s Gambit“ von Scott Frank und Allan Scott auf Netflix wird Beth Harmon, die Hauptfigur, einmal gefragt, was sie denn nun mit Schach verbinde. Es gehe ihr nicht so sehr um die Figuren, so ihre Antwort, sondern um das Schachbrett. „Ich fühle mich darauf sicher. Ich kann es kontrollieren, ich kann es beherrschen. Und es ist vorhersehbar. Wenn mir Schmerz zugefügt wird, kann ich nur mich selbst anklagen.“
Als ich diese Szene sah, musste ich an Akkus denken. Das ist natürlich stark erklärungsbedürftig.
Über Akkus nachzudenken heißt, die Maschinisten der Digitalisierung in den Blick zu nehmen. Akkus sind nicht so glamourös wie die Computerchips und nicht so extrovertiert wie die Bildschirme. Außerdem: Chips und Bildschirme funktionieren, oder sie funktionieren nicht, und wenn sie nicht funktionieren, kann man nichts machen. Um Akkus muss man sich dagegen kümmern. Man muss sie aufladen, ein Stück weit pfleglich behandeln, Tiefenentladungen vermeiden.
Im Gegensatz zu Chips und Screens haben Akkus zudem eine eingebaute Lebensspanne. Aufgrund ihrer internen Prozesse verlieren sie mit jedem Ladezyklus ein Stückchen mAh-Kapazität (so wie Vinyl-Alben, die, wenn man sie abspielt, sich auch leicht abnutzen) – mAh, Milli-Ampere-Stunden, eine, wenn man sich mit Akkus beschäftigt, zentrale Maßeinheit. So wie PS beim Auto. Ladezyklus, ein weiterer zentraler Begriff. So wie gefahrene Kilometer.
Trotz dieser teilweise nervigen und, alles in allem, unclean analogen Eigenschaften sind Akkus wie durch Zauberhand zuletzt im Alltag immer präsenter geworden.
Sie werden immer mehr
Ich habe gerade mal durchgezählt. Ich lebe inzwischen mit 14 wichtigen Akkus, sie halten mich ganz schön auf Trab. Handy, Tablet, das alte iPad (mit Ebooks, die ich in kein anderes Format transformiert bekomme), Zeitungsproduktionslaptop, Schreiblaptop, großer Wechselakku des Schreiblaptops (es ist ein älteres Modell), Filmgucklaptop (ein bisschen spleenig, aber ich trenne halt gern zwischen Zeitung produzieren, schreiben und Filmen gucken), Bluetooth-Box, Bluetooth-Kopfhörer, Haarschneider, Powerbank, diese aufladbare Blumenlampe aus dem taz-Shop, der alte Kindle, Akkuschrauber. In allen diesen Geräten stecken Akkus. Akkus sind nicht nur immer leistungsfähiger, sondern vor allem auch immer mehr geworden.
Dabei sind Akkus Ambivalenzmaschinen. Sie ermöglichen Freiheiten und limitieren sie zugleich. Mobilität, einer der Schlüsselbegriffe unserer Zeit (bis Corona kam). Artikel schreiben im Zug. Filme schauen nachts auf dem Balkon (im November eingehüllt mit Kapuzenpulli und Decke), Charles Mingus hören im Park. Ohne Akkus schwer möglich. Jede*r hat da eigene Bilder im Kopf.
Ich erinnere mich aber auch an wahre Akku-Abenteuer. Damals der Bericht von der Friedenspreisverleihung, im Café geschrieben und kurz vorm Selbstausschalten des Geräts in die Redaktion geschickt. Das war knapp. Außerdem zwingen einen Akkus eben dazu, auf sie zu achten. Unter fünfzig Prozent Ladestand werde ich nervös. Immer mal wieder zu überprüfen, wie weit diese kleine stilisierte Batterie in der Statuszeile des jeweiligen Geräts noch von links mit dem weißen Balken gefüllt ist, gehört zu meinen ständigen Ritualen. So wie sich ins Gesicht fassen.
Kurz vor der Selbstabschaltung
Der Punkt dabei ist: Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich mich sogar gern um meine Akkus kümmere – selbst wenn ich das selbst ein Stück weit als uncool und auch als zwanghaft empfinde. Dass ich mal mit einem ungenügend aufgeladenen Handy oder Laptop aus dem Haus gehe, kommt so gut wie nie vor. Ständig schließe ich ein Ladegerät an oder ziehe den Stecker eines anderen Ladegeräts aus der Steckdose.
Und ich kenne inzwischen auch meine Pappenheimer. So hat der Akku des Filmlaptops – der aufgrund des stromfressenden hochauflösenden Bildschirms auch gut zu tun hat – die Eigenschaft, bis hinunter zum Ladestand von fünfzig Prozent prima zu funktionieren und darauf die zweiten fünfzig Prozent in Windeseile zu entladen. Keine Ahnung, woran das liegt.
Das alles mag im Einzelfall nerven – einmal kam ich mit einem nur zur Hälfte gestutzten Bart aus dem Badezimmer, weil dem Haarschneider mittendrin der Saft ausgegangen war –, aber ich muss mir eben eingestehen, dass Akkus mir offensichtlich über den mobilen Strom hinaus noch etwas anderes geben. Ein Gerüst. Einen Orientierungsrahmen.
Netzteil suchen noch vorm Zähneputzen
Und von Induktionsladestationen oder akkuraten Steckerleisten, auf denen die jeweiligen Netzteile ordentlich aufgereiht sind, möchte ich nichts wissen. Nein, ich möchte es auf die gute alte Art haben, inklusive Netzteil suchen und morgens noch vorm Zähneputzen das Tablet aufladen, auf dem ich Zeitungen lese und Twitter verfolge, damit es den Tag durchhält.
Nun ließe sich das alles sicherlich ein Stück weit unter individueller Schrulligkeit verbuchen. Doch ich plädiere darauf, dass Schrulligkeit die Deutungsmöglichkeiten keineswegs ausschöpft.
Der britische Kultursoziologe und Ethnologe Daniel Miller hat vor einem Dutzend Jahren ein bis heute instruktives Buch über die Beziehungen von Menschen zu Gegenständen geschrieben, „Der Trost der Dinge“. In der deutschen kulturkritischen Tradition fallen solche Beziehungen in den Bereich des Uneigentlichen, sie werden mit dem Vorwurf belegt, der interaktiven Lebenswelt defizitär entgegenzustehen, wenn sie nicht gleich mit konsumkritischen Ansätzen überzogen werden.
Beziehungen zu Dingen
Daniel Miller beschreibt es anders. In dem Moment, in dem sich enge gesellschaftliche und staatliche Ordnungen zurückziehen, werden für ihn Beziehungen zu Dingen in einem Mix mit menschlichen Beziehungen und Gewohnheiten zu einem Fundus, aus dem sich die Einzelnen ihre jeweilige Alltagsordnung zusammenbasteln.
Nun lässt sich darüber viel diskutieren, wahr ist zumindest, dass diejenigen, die sich, um Gegenwart zu beschreiben, nur an die weltwichtigen und offiziösen Themen halten (Trump, Klima, Lockdown), Gegenwart verfehlen. Ihre Kontur und Komplexität bekommt die Gegenwart erst, wenn man die Beziehungen zu Dingen und Menschen hinzunimmt. Daniel Miller: „Diese Beziehungen bilden materielle und soziale Muster, die dem Leben des Einzelnen Ordnung, Sinn und in der Regel auch ethische Maßstäbe geben und ihm darüber hinaus ein Trost und eine Zuflucht sind.“
Als so eine Zuflucht lässt sich womöglich der sorgende Umgang mit Akkus tatsächlich beschreiben. Für andere mögen Schrebergärten, Wohnungseinrichtungen oder Kleidungsstücke eine ähnliche Funktion erfüllen. Bei mir sind es halt die Akkus.
Die Sorge um sich
Und vielleicht sind Akkus in diesem Zusammenhang gar keine schlecht gewählten Objekte. Wer sich um sie sorgt, kann andere Bereiche wiederum entspannter angehen. Das weite Feld von Wellness und Selbstoptimierung zum Beispiel, auf dem sich interessanterweise viele Menschen mit der Semantik von Akkus beschreiben: „Mein Akku ist leer“, „Ich muss meinen Akku aufladen, „Ich fühle mich ausgebrannt“ usw. Wer seine Ordnungsbedürfnisse mit realen Akkus austobt, kann dagegen die Sorge um sich ein Stück weit dem eigenen Körper überlassen.
Akkus wären, so gesehen, als Beziehungsobjekte interessant, keineswegs obwohl, sondern gerade weil man sich um sie kümmern muss. Und gerade aufgrund ihrer Ambivalenzen können Akkus vielleicht sogar als Symbolobjekte unserer Zeit, ein Stück weit als Signum der Merkel-Jahre gelten, die durch Ambivalenzen durch und durch gekennzeichnet sind: Krisen weltweit, aber den eigenen Alltag kann man sich – wenn man denn einen alten Mietvertrag, eine feste Arbeitsstelle und nicht zu viele Neurechte im Umfeld hat – passabel einrichten.
Die Akkus stehen dabei äquivalent zum Schachbrett in „The Queen’s Gambit“: Man kann sie kontrollieren, sie sind vorhersehbar, und wenn man zur Unzeit mit einem entleerten Akku im mobilen Endgerät irgendwo herumsteht, kann man nur sich selbst anklagen.
Der beherrschbare Alltag
Doch es mag auch sein, dass Akkus diese Symbolik gerade wieder verlieren. Denn zum einen werden sie inzwischen so ausgefeilt, dass man sich weniger um sie kümmern muss. Zum anderen ist manches an der Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart weniger ambivalent. Die Erfahrung von Corona ist eher die, dass nichts restlos beherrschbar ist am eigenen Alltag, dass man bis in den innersten Bereich des eigenen Daseins zufälligen Begegnungen und dem Verhalten der Mitmenschen ausgesetzt ist. Da stellt auch die Sorge um Akkus keine Zuflucht mehr her.
Zum Teil treten möglicherweise die Mund-Nasen-Masken, mit denen wir uns bedecken, um die anderen zu beschützen und überhaupt noch reale Begegnungen zu ermöglichen, an ihre Stelle. Da kommt es darauf an, wie lange Corona bleibt. Die Beziehungen zu Akkus waren gemütlicher.
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