125 Jahre Nabu: Erst Piepmätze, dann Protest
Wegen des „Massenmords an Zugvögeln“ gründet sich 1899 der Naturschutzbund. Heute ist er der größte Umweltverband im Land.
Hähnle und ihre Mitstreiter wagen am 1. Februar 1899 die reichsweite Ausdehnung. Sie gründen in Stuttgart den Bund für Vogelschutz (BfV), der 91 Jahre später zum Naturschutzbund Nabu umbenannt wird. Schon am Jahresende 1899 hat der BfV 3.500 Mitglieder, vor allem Beamte und Honoratioren. Jahresbeitrag: 50 Pfennig. Frauen dominieren den konservativen und staatstragenden Verband. Vom württembergischen Innenministerium fließen Zuschüsse, der Adel hilft. Zu den Unterstützern des Bunds gehören Prominente wie der Dramatiker Gerhart Hauptmann, die Pazifistin Bertha von Suttner und der Mediziner Ernst Haeckel.
Heute wird der Nabu 125 Jahre alt – und ist mit 940.000 Mitgliedern der größte Umweltverband Deutschlands, auch mehr als 100.000 Kinder und Jugendliche sind aktiv. 70.000 ehrenamtliche Aktivisten und 2.000 lokale Ortsgruppen prägen ihn – und leisten drei Millionen Stunden unentgeltliche Arbeit im Jahr.
Schon damals blieb es nicht bei Vorträgen, Winterfütterung und der Pflanzung von Vogelschutzgehölzen. Die „Sicherung von Landstücken“ für den „Aufenthalt schöner Vogelarten“ war von Anfang an eine wichtige Nabu-Strategie. 1908 kauft der BfV mit der schwäbischen Nachtigalleninsel das erste Schutzgebiet, heute sind es Moore, ganze Seen und Weideflächen, Inseln und Forste mit einer Größe von über 100.000 Hektar, so viel wie 140.000 Fußballfelder.
Vogelfreunde unterm Hakenkreuz
1935 kapern die Nazis den Verband, machen ihn zum Reichsbund für Vogelschutz. Die BfVler schlagen die Hacken zusammen und stellen sich hinter den Führer. Sie geloben, „unsere ganze Kraft für sein hohes Ziel einzusetzen“. Mitglieder müssen jetzt „deutschen oder artverwandten Blutes“ sein, „unnütze“ Vögel wie Spatzen sollen nicht länger gefüttert werden. Göring und Hitler gerieren sich als große Vogelfreunde, bestellen Tausende Nistkästen. Der Führer beschäftigt auf dem Obersalzberg eigens einen Vogelwart.
Nach dem Krieg lassen die Besatzungsmächte den BfV wiederauferstehen, ohne die vielen ostdeutschen Mitglieder und Initiativen. Im Westen steigen die Mitgliederzahlen. Gleichzeitig geraten im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Natur und Umwelt heftig unter die Räder.
Das Spektrum wird breiter. Saurer Regen und die Vergiftung durch Pestizide, der Bau von Kraftwerken und die Flusskanalisierungen werden auch beim BfV zum Thema. Mit dem Aufbruch der neuen Ökologiebewegung klopfen indes andere Organisationen den Takt. Greenpeace, die teilweise militanten Anti-Atom-Gruppen und die „Landplage der Bürgerinitiativen“ (FAZ) sorgen jetzt für Schlagzeilen. Der BfV wird zum schlafenden Riesen.
Arbeit für Umwelt, Klima und Natur
Die Arbeitsteilung im Umwelt-, Klima- und Naturschutz ist bis heute erhalten geblieben. Verbände wie die Deutsche Umwelthilfe, der BUND, Greenpeace oder Fridays for Future agieren aggressiver, spektakulärer und vor allem medienwirksamer. Der nach der Wiedervereinigung zum Nabu umgetaufte BfV ist braver, konservativer – und wirkt oft geräuschlos im Hintergrund. Die fortschreitende Naturzerstörung, die Erdüberhitzung durch die Klimakrise und vor allem der rasante Verlust der biologischen Vielfalt sorgen aber auch im Nabu für eine zunehmende Politisierung. Wenn alle zehn Minuten eine Art ausstirbt, ihr Tod zum Pulsschlag der Erde wird, wollen viele Naturschützer nicht mehr im Stillen wirken.
Mit Jochen Flasbarth übernimmt 1992 ein junger Wilder die Präsidentschaft. Er hat schon als Jugendsprecher den Verband auf Trab gebracht. Flasbarth, heute Staatssekretär im Entwicklungsministerium, sorgt für Neuorientierung und eine andere Tonlage. Der Nabu mischt sich stärker ein, auch in die Klima- und Energiepolitik. Neben Rotbauchunken und Wintergoldhähnchen stehen nun auch Klimakiller und Tempolimit auf der Agenda.
Zur Bundestagswahl 1998 tourt Flasbarth gemeinsam mit dem BUND-Vorsitzenden Hubert Weinzierl durchs Land. Ihre Kernforderungen: ökologische Steuerreform, Atomausstieg, mehr Umweltpolitik. Heute sehnen sich einige im Nabu nach einem ähnlich frischem Wind an der Verbandsspitze. Auch der bekannteste deutsche Naturschützer, der Greifswalder Landschaftsökologe Michael Succow, wünscht sich angesichts der Verwüstung der Erde „einen offensiveren Nabu“.
Die aktuellen Aktivitäten des Nabu sollten aber auch nicht kleingeredet werden, betont Succow. Und lobt vor allem die, auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügende, große Expertise für Tiere, Pflanzen und Ökosysteme in den Ortsgruppen, die in Ostdeutschland schon zu DDR-Zeiten entstanden war. Und er würdigt die internationalen Projekte des Nabu in mehr als einem Dutzend Ländern. Dieses Engagement sollte verstärkt werden, sagt Succow.
Feldhamster vs. Autobahn
Kann Naturschutz die Gesellschaft verändern? „Eine Industrienation kann nicht wegen zwei Feldhamstern im Gebüsch auf wichtige Infrastrukturprojekte verzichten“ heißt die in Deutschland übliche Rechtfertigungsformel für die Zerstörung der Natur.
Aber: Schlagen die Herzen der Deutschen tatsächlich für achtspurige Autobahnen und SUVs höher als für Hamster, Fledermäuse und Rotkehlchen? Schon der Aufruhr um das Waldsterben in den 1980er Jahren hat gezeigt, was politisch in Bewegung geraten kann, wenn auch konservative Kreise Alarm schlagen. Wenig muss die politische Klasse mehr fürchten als eine Koalition von Pilzsammlern, Wanderfreunden und Fridays-for-Future-Aktivisten.
Ja, der Nabu müsste offensiver, politischer, medienwirksamer werden. Und trotzdem soll er weiter den Vogel des Jahres präsentieren und uns per Podcast über den 320 Stundenkilometer schnellen Flug des Wanderfalken staunen lassen. Eine anspruchsvolle Dialektik.
„Vogelschutz kann von jedermann betrieben werden“ schrieb ein Freiherr von Berlepsch schon 1905. Da hatte er wohl recht. Heute bedeutet Vogelschutz vor allem Umwelt-, Klima- und Planetenschutz. Es geht nicht mehr um süße Piepmätze, sondern um den Fortbestand der Lebensgrundlagen und um ein Ende des monströsen Weiter-so. „Wir haben eingesehen, dass die vom Menschen verdorbene Natur einzig und allein durch Menschen korrigiert werden kann“, schrieb dazu der Freiherr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen