10 Jahre nach dem Sürücü-Mord: Ein Verbrechen und seine Folgen
Vor zehn Jahren wurde die Deutschkurdin Hatun Sürücü von ihrem Bruder ermordet. Diese Tat hat die Integrationsdebatte verändert.
Die drei Schüsse, die vor zehn Jahren an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof fielen, hallen bis heute nach. Die 23-jährige Hatun Sürücü wurde dort am späten Abend des 7. Februar 2005 durch ihren jüngeren Bruder Ayhan ermordet. Ihr Name wurde dadurch zu einem Synonym für Zwangsehen und für Morde, die im Namen einer archaisch verstandenen Familienehre begangen werden.
In patriarchal geprägten Gesellschaften hängt die Ehre einer Familie vom rollenkonformen Verhalten ihrer Mitglieder ab. Vor allem über die Sexualität der Frauen, deren makelloses Ansehen außer Frage stehen muss, wird deshalb eifersüchtig gewacht. Besonders ausgeprägt findet sich diese Haltung noch heute am Mittelmeer, im Nahen Osten und in Asien – etwa im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, aus dem die Familie Sürücü stammte. Manche Einwanderer haben diese Einstellungen in der Diaspora konserviert – oder sogar radikalisiert wie Ayhan Sürücü, der in Deutschland geboren wurde.
Dass ein ganzer „Familienrat“ beschließt, das Fehlverhalten einer weiblichen Angehörigen mit Mord zu ahnden und den jüngsten Bruder damit zu beauftragen, weil dieser die geringste Strafe zu befürchten hat, ist ein besonders krasses Muster. Dass es sich im Fall der Familie Sürücü so zugetragen hat, wie manche Medien damals spekulierten, ist aber eher unwahrscheinlich.
Bis heute ist ungeklärt, ob Ayhan Sürücü den Mord alleine geplant und begangen hat oder nicht. Der Bundesgerichtshof in Leipzig hielt seine beiden Brüder für mögliche Mittäter und kassierte das Urteil der Vorinstanz, die sie freigesprochen hatte. Beide haben sich in die Türkei abgesetzt. Die beeindruckende TV-Reportage der RBB-Journalisten Jo Goll und Matthias Deiß, die auch als Buch erschienen ist, lässt es aber plausibel erscheinen, dass der 17-jährige Ayhan auf eigene Faust gehandelt haben könnte.
Mit Gewalt die familiäre Ordnung verteidigen
Sein Bruder Mutlu, der in fundamentalistischen Kreisen verkehrte, dürfte zwar keinen guten Einfluss auf ihn ausgeübt haben. Doch Ayhan war in die Rolle des Quasi-Familienoberhaupts gerückt, weil seine älteren Brüder schon von zu Hause ausgezogen waren und sich sein Vater monatelang in der Türkei aufhielt. Gut möglich, dass er sich deshalb berufen fühlte, mit Gewalt für den Erhalt einer imaginären familiären Ordnung zu sorgen.
Der Mord hat die Familie zerstört. Der Vater starb 2007, die Geschwister haben sich in alle Winde zerstreut. Hatuns Sohn Can, der in der Tatnacht in ihrer Wohnung schlief, wuchs bei Pflegeeltern auf. Ayhan Sürücü hat im Sommer 2014 nach neuneinhalb Jahren seine Haftstrafe verbüßt und wurde in die Türkei abgeschoben.
Der Mord an Hatun Sürücü hat aber auch die Integrationsdebatte verändert. Manche sahen bis dahin über solche Taten hinweg, weil sie einer diskriminierten Minderheit nicht schaden wollten. Für andere war es eine Sache unter Ausländern, die ohnehin nicht so richtig zu Deutschland gehörten und sie folglich auch nichts anging.
Sogenannte Ehrenmorde hatte es in Deutschland zwar schon vorher gegeben. Doch die attraktive junge Frau, die sich von familiären Fesseln und einer arrangierten Ehe mit einem Cousin befreit hatte, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, bot sich als Identifikationsfigur an, um auf das Drama anderer junger Frauen in einer ähnlichen Lage aufmerksam zu machen. Deshalb erfuhr ihr Fall so viel mediale Aufmerksamkeit wie kein anderes dieser Verbrechen zuvor.
Gängelung und Sozialkontrolle
Seitdem steht fest, dass auch „Ehrenmorde“ zu Deutschland gehören – und dass es eine Aufgabe dieser Gesellschaft ist, sie zu verhindern. Sie bilden auch nur die sichtbare Spitze des Eisbergs aus Gängelung, Erwartungen und Sozialkontrolle, die Mädchen und Frauen, aber auch jungen Männern aus Einwandererfamilien das Leben schwer machen. Die breite öffentliche Diskussion hat die Aufmerksamkeit auf das Problem gelenkt und viele junge Frauen aus Einwandererfamilien motiviert, Hilfs-angebote wahrzunehmen oder Frauenhäuser aufzusuchen.
Die Debatte nach dem Mord an Hatun Sürücü trug zeitweise aber auch hysterische Züge und rief dubiose Trittbrettfahrer auf den Plan. Die Publizistin Necla Kelek etwa profilierte sich mit der These, jede zweite Ehe unter Türken in Deutschland sei eine Zwangsehe – eine willkürlich aus der Luft gegriffene Zahl. Dadurch sahen sich aber viele Deutschtürken genötigt, diesen Verdacht von sich zu weisen. Unter medialem Tamtam wurde 2007 der Hilfsverein „Hatun und Can“ gegründet, um bedrohten muslimischen Frauen zu helfen, und Kelek wurde prominentes Mitglied. Drei Jahre später wurde der Vereinsgründer Udo D. verhaftet und wegen Spendenbetrugs zu mehrjähriger Haft verurteilt: Er hatte das Geld verjubelt. Nachdem er von Alice Schwarzer eine Spende über eine halbe Million erhalten hatte, war diese misstrauisch geworden.
Archaische Vorstellungen von Männlichkeit
Noch heute erfahren Mord und Totschlag in Migrantenfamilien eine größere mediale Aufmerksamkeit als Beziehungstaten unter Herkunftsdeutschen. Dass ein Bruder seine Schwester oder ein Vater seine volljährige Tochter umbringt, weil sie deren Lebensstile ablehnen, mutet in unserer heutigen Zeit archaisch an. Doch nicht jede Tragödie unter Einwanderern ist ein „Ehrenmord“, auch wenn traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit oder familiärer Druck dabei eine Rolle spielen. Die Debatte darüber vermittelt aber zuweilen den Eindruck, nur Deutsche hätten eine Psyche, während insbesondere muslimische Einwanderer lediglich als Gefangene ihre Kultur handeln könnten.
Hatun Sürücü aber ist unvergessen. An diesem Wochenende finden in Berlin zahlreiche Gedenkveranstaltungen für sie statt. Ein Fußballturnier, das die Frauen- und Mädchenabteilung des Kreuzberger Vereins Türkiyemspor initiiert hat, wurde nach ihr benannt, auch eine Brücke soll bald ihren Namen tragen.
Zahlreiche Aufklärungskampagnen und Initiativen setzen sich dafür ein, traditionelle Geschlechterrollen unter Einwandererkindern infrage zu stellen. Und die Kriminologin Julia Kasselt kam in einer Untersuchung über „Ehrenmorde“ 2014 zu dem Schluss, dass diese von deutschen Gerichten eher härter bestraft werden als andere Tötungsdelikte. Die deutsche Gesellschaft hat aus dem Mord an Hatun Sürücü viel gelernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland