10 Jahre „Sommer der Migration“ : Als Deutschland offene Herzen hatte
„Wir schaffen das“, diesen Satz würden manche wohl lieber ungeschehen machen, aber warum? Unser neues Sonderprojekt würdigt 10 Jahre „Sommer der Migration“. Wir blicken zurück – und nach vorn.
Aus der taz | Ende August 2025 ist es zehn Jahre her, dass Angela Merkel erklärte, „wir schaffen das“. Die Wochen und Monate danach haben nicht nur hunderttausende Geflüchtete hierher gebracht, sie prägen Deutschland und Europa bis heute.
Wir – die taz – möchten dem „Summer of Migration“ und vor allem dessen Folgen ab August monatliche Sonderausgaben widmen. Wir starten mit dem Jubiläum des „Wir schaffen das“ und arbeiten uns vor bis zum Jahrestag der Silvesternacht 2015/16 in Köln. Aber uns geht es nicht um die historische Rückschau. Der Blick in die Vergangenheit ist für uns nur der Anlass, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen – und mit der Zukunft. Denn wir sind uns sicher: 2015 ist nicht vorbei.
Das Thema Migration ist heute so allgegenwärtig wie damals. Und die großen Fragen von 2015 sind auch die großen Fragen von 2025: Wie vor zehn Jahren beschäftigt uns die Ankunft und Integration von Kriegsgeflüchteten, die brutale Abschottung Europas im Mittelmeer, der Aufstieg der AfD und rechter Terror.
Wo waren wir 2015 zu naiv?
Allerdings: Deutschland ist nicht mehr das Land von 2015. Der ganze Westen steckt heute in einer tiefen Krise, Geflüchtete kommen nun etwa aus Belarus über die Grenze, gezielt eingesetzt als „hybride Waffe“. Die AfD ist keine neue Kraft mehr, die mit der Fünfprozenthürde kämpft, sondern stellt die zweitgrößte Fraktion im Bundestag. Und an der Spitze des Landes steht nicht mehr Angela Merkel – sondern Friedrich Merz.
„Wir wollen konstruktiv nach vorne schauen, vielleicht auch ein bisschen träumen“
Migration ist zu einer Chiffre geworden für die ungelösten Probleme einer progressiven Gesellschaft, eines weltoffenes Landes, dessen vermeintlicher Wertekonsens wackelt.
Wir stellen uns diesem neuen Deutschland und wollen Antworten finden auf die seit zehn Jahren bohrenden Fragen. Wie bestimmt Geopolitik die Fluchtbewegungen? Wo waren wir 2015 zu naiv? Wohin steuert die Europäische Union seitdem? Was passiert jetzt und künftig an den deutschen Grenzen?
Konstruktiv nach vorne schauen
Aber es geht nicht allein um die große Politik, sondern gerade auch um das vermeintlich Kleine. Wir wollen Geschichten erzählen, die im dominanten gesellschaftlichen Diskurs nicht abgebildet sind: Wie ist es, in ein Land zu kommen, das gerade alles daran setzt, einen fernzuhalten? Welche Rolle spielt Klasse dabei, wer es schafft, sich in die deutsche Gesellschaft einzufinden? Und wie geht eigentlich deutsch-syrische Liebe?
Wir wollen konstruktiv nach vorne schauen, vielleicht auch ein bisschen träumen: Warum braucht es Klimaschutz, um Geflüchtete zu schützen? Lassen sich die Rechten doch noch zurückdrängen? Wie kann eine menschenrechtsorientierte Migrationspolitik politische Mehrheiten finden?
Gestaltet wird die Ausgabe von Menschen mit und ohne Fluchtgeschichte. Dabei sollen insbesondere auch geflüchtete Menschen selbst zu Wort kommen. Immer wieder in unterschiedlichen Formaten im Blatt verteilt – und regelmäßig in Form einer Kolumne, in der Journalist*innen mit Fluchtgeschichte schreiben.
Unterwegs mit der „SeaWatch5“
Ihre Geschichten greifen wir auch in einem Podcast auf. Zu jeder Zeitungs-Sonderausgabe wollen wir eine neue Folge des Podcasts veröffentlichen. Der Podcast und ebenso die Kolumne werden durch eine finanzielle Unterstützung taz Panter Stiftung ermöglicht.
Außerdem setzen wir einen Fokus auf die sozialen Medien. Hier wollen wir nicht nur die besten Texte vorstellen, sondern auch unsere Redakteur*innen auf ihren Recherchereisen einbinden. Wenn wir mit dem Seenotrettungsschiff „Seawatch 5“ unterwegs sind, liefern wir dann etwa Videotagebücher vom Mittelmeer.
Eine große interne Herausforderung – aber auch Chance – ist für uns die Seitenwende zum 17. Oktober. Die ersten zwei unserer Sonderausgaben erscheinen noch gedruckt in der Werktagsausgabe, anschließend geht es in der App weiter. Das ist ein Experiment, aber wir wollen beweisen, dass große Sonderprojekte auch digital sehr gut funktionieren. Am 16. August geht es los. 🐾